Mit Liszt nach Ungarn - Philharmonia Chor Stuttgart gastierte an Pfingsten in Miskolc Drucken

Szenische Produktion der „Via crucis" von Franz Liszt

Thumbnail imageDass ein deutscher Konzertchor im Ausland geistliche Musik von Franz Liszt zu Gehör bringt, mag an sich kein besonders herausragendes Ereignis darstellen. Wenn dies aber in einem Liszt-Jahr – 200. Geburtstag und 125. Todestag – im Liszt-Land Ungarn geschieht, dazu mit einer szenischen Produktion auf einem international besetzten Opernfestival, erlangt eine solche Unternehmung zumindest den Charakter des Außergewöhnlichen.

Seit 2001 findet im zwei Autostunden nordöstlich von Budapest in der Tokaj-Region gelegenen Miskolc ein Opernfestival statt, das alljährlich die Musik Bartóks mit der eines anderen Komponisten oder einem Thema verbindet. In diesem Jahr nahm das Internationale Opernfestival Miskolc vom 9. bis zum 19. Juni unter dem Titel „Bartók + Verdi 2011" gleich zwei zusätzliche Komponisten in den Fokus und präsentierte Opernaufführungen, Konzerte, Lesungen und Filme von und zu Verdi und Franz Liszt. In diesem Umfeld international renommierter Künstler konnte der Philharmonia Chor Stuttgart am Samstag vor Pfingsten unter der Leitung von Johannes Knecht eine eigene, in Kooperation mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart 2010 unter der Regie von Lars Franke entstandene szenische Produktion der „Via crucis" von Franz Liszt zur Aufführung bringen. Dargeboten wurde die Fassung für Klavier, der das „Ave Maria" aus Liszts „Harmonies poétiques et religieuses" vorangestellt wurde – hinreißend interpretiert von dem jungen Pianisten Jun Bouterey-Ishido.

Liszt hatte seine im Wesentlichen 1878 geschaffene „Via crucis" als eine Art religiöser Gebrauchsmusik gedacht, als musikalischen Ausdruck individueller Andacht an den 14 Stationen des Leidens Jesu. In der musikalischen Gestalt reduziert, wie auf jeweils einen individuellen Zugang zur Leidensgeschichte verdichtet, weitet Liszt den liturgisch festgelegten Rahmen des dramatischen Geschehens, indem er eine reiche Palette unterschiedlicher musikalischer und konfessioneller Sprachen zum Einsatz bringt. Der Chronologie der Ereignisse folgend, bietet die „Via crucis" einen musikalischen Gang durch die Jahrhunderte, vom gregorianisch anmutenden einleitenden Prozessionshymnus „Vexilla regis" bis zum in Bach'scher Diktion gehaltenen protestantischen Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden", von Zitaten aus den Passionsberichten der Evangelisten und Versen der mittelalterlichen Mariensequenz „Stabat mater" bis hin zur ausgefeilten Chromatik im so klangschön wie intonationssicher vorgetragenen Lied „O Traurigkeit, o Herzeleid".

Präsentiert uns die Komposition Liszts in den Sprachen der Überlieferung gewissermaßen einen ökumenischen Zugang zur Passionsgeschichte, so versieht Lars Franke in seiner Inszenierung das dramatische Geschehen mit dem kritischen Blick einer weltlicheren Perspektive. Er fügt dem vorgegebenen Personal die Figur eines Malers hinzu – wundervoll dargestellt durch den Salzburger Schauspieler Christoph Kail –, der in quasi teilnehmender Beobachtung mit Worten aus der Feder José Saramagos betrachtend, kommentierend, vor allem aber kritisch fragend die Handlung begleitet.

Franke stellt den Menschen in den Mittelpunkt, den Menschen Jesus in seinem Leid ebenso wie diejenigen, die ihm dieses Leid zufügten – das wiederum auf sie selbst zurückwirkt. Die Protagonisten – neben dem Chor die sechs Sängerdarsteller Isabella Froncala und Tamara Bueno de la Torre (Sopran), Gabriele Lesch (Mezzosopran), Christian Georg (Tenor), Johannes Mooser (Bariton; Jesus) und Till Schwarz (Bass; Pilatus), überwiegend Studierende der Stuttgarter Musikhochschule – verändern sich im Verlauf der Handlung. Vor allem das Volk – verkörpert durch den Chor – ist am Ende nicht mehr das Gleiche wie zu Beginn. Es durchläuft zwischen der archaisch anmutenden Eingangsprozession und dem zu den sphärischen Klängen des Finalsatzes hinführenden Auszug auf die Emporen des Kirchenraums eine Entwicklung, die die Beteiligten zu Trägern einer möglichen Utopie werden lässt. Sahen wir zu Beginn einzelne Individuen in einer archaischen Struktur, dann eine Gruppe – die Männerstimmen – in dem Versuch, dieser Archaik in aggressiver Weise Geltung zu verschaffen, so ist diese Starrheit am Ende aufgelöst: Die Individuen haben sich zu Paaren zusammengefunden. Schon in Liszts Musik ist eine klare Rollenverteilung auszumachen. Es sind die Männerstimmen, die den aggressiven Part übernehmen, während die Frauen (Soli wie Chor) einen mitfühlenden, besänftigenden Gestus einnehmen. In Frankes Inszenierung sind es die Frauen, denen es gelingt, die starren Strukturen des Überkommenen aufzubrechen. Die Figur des Malers hat die Richtung vorgegeben: Am Ende ist sein Bild, das zunächst mit überkommenen Vorstellungen gefüllt war, leer. Bilder geben keine Antwort auf das Leid des Menschen, es sind die Menschen selbst, die den Keim der Utopie, die Möglichkeit der Wende, des Neuanfangs in sich tragen.

Das Publikum in der innerstädtischen evangelischen Kirche Miskolc folgte konzentriert, ja gebannt der spannenden und ergreifenden Darbietung des von Regisseur Lars Franke hervorragend eingestellten, von Johannes Knecht sensibel geführten, mit großer Intensität und dabei bester Spiellaune agierenden Ensembles. Der Spannungsbogen hielt bruchlos bis zum Ende des Finalsatzes und mündete in einen langanhaltenden, herzlichen Applaus.

Ralph Schmidberger, Philharmonia Chor Stuttgart
17.06.2011