Bach-Verein Köln und Philharmonischer Chor Bonn mit Bernsteins „Mass“ Drucken

„Spektakulär, berührend, zutiefst bewegend“

Thumbnail imageDer Schlusston des abschließenden Chorals endet im Pianissimo. Der Priester sagt: „The Mass is ended. Go in peace.“ Es folgt absolute Stille., Zweitausend Menschen halten in der seit Monaten ausverkauften Kölner Philharmonie den Atem an. Dann bricht ein ohrenbetäubender Jubel aus, die Zuschauer springen von ihren Sitzen auf und feiern mit schier endlosem Applaus die erste vollständige Kölner Aufführung von Leonard Bernsteins „Mass“ am 10. Mai 2016. „Thomas Neuhoff, der als äußerst produktiver Chorleiter nicht nur in der Köln/Bonner Region weithin anerkannt ist, und seine Mitstreiter haben hier Außerordentliches, ja geradezu Denkwürdiges geleistet“, bilanziert das Klassikmagazin Rondo und fasst die Aufführung zusammen: „Das Ergebnis war spektakulär, berührend, zutiefst bewegend.“

Leonard Bernsteins „Mass“, 1971 zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers in Washington komponiert, wird aufgrund des zu seiner Realisierung benötigten enormen Aufwands nur selten aufgeführt, insbesondere in Europa. Bernstein nennt es ein „Theatre Piece for Singers, Players and Dancers“, und in der Tat ist es keine klassische Messkomposition in der Folge von Bach, Mozart und Beethoven. Es ist nicht für Konzertsäle, erst recht nicht für Kirchen, sondern in erster Linie für Opernhäuser konzipiert. Das Werk erfordert einen enormen Klangapparat aus großem Sinfonieorchester, umfangreicher Percussion, Jazzband, zwei Chören, Kinderchor und zahlreichen Solisten. „Mass“ erzählt die Geschichte einer (katholischen) Messe, mit einem Priester im Mittelpunkt, der versucht, einen Gottesdienst mit seiner Gemeinde zu feiern. Doch die Messe geht grandios schief: Glaubenszweifel in der Gemeinde werden während der Messe laut, Gemeindemitglieder (aus dem sog. „Street Chorus“) formulieren deutlich und laut ihre Fragen an Gott und die Kirche. Der Priester, in der Kölner Aufführung verkörpert von dem beeindruckenden amerikanischen Solisten Jubilant Sykes, wird durch den massiven Widerstand zunehmend verunsichert, bis er auf dem Höhepunkt des Werks den Kelch zerschmettert und dem Wahnsinn nahe ist. Am Ende finden alle, Chor, Street Chorus, Kinderchor und Priester, wieder zu einem ganz leisen, einfachen Glauben zurück.

Die Kölner Aufführung des Bach-Vereins Köln und des Philharmonischen Chors Bonn unter Leitung von Thomas Neuhoff wählte einen halbszenischen Ansatz. Regisseur Martin Füg schöpfte die begrenzten Raummöglichkeiten der Kölner Philharmonie weitestgehend aus und erarbeitete vor allem mit dem Street Chorus, der sich aus Profisolisten, Studentinnen der Hochschule für Musik Düsseldorf und Mitgliedern der beteiligten Chöre rekrutierte, ein einfaches, aber wirkungsvolles szenisches Konzept, das auf die Vielfalt von rund 30 in der Probenarbeit erfundenen Figuren setzte, die das Stück in ein lebendiges Heute holten. Deutsche Übertitel, ergänzt um aktuelle Zitate von Schülerinnen und Schülern aus dem begleitenden Schülerprojekt, halfen dem Publikum, das Stück mit seinen bohrenden Fragen zu Glaubenszweifeln, zur Rolle von Gott und den Kirchen direkt auf heute und sich zu beziehen. Was das Stück und die Aufführung auslösten, war nicht nur an dem riesigen Beifall und den begeisterten Pressereaktionen ablesbar, sondern auch an zahllosen E-Mails und mündlichen Rückmeldungen aus dem offenkundig stark berührten Publikum, die das Produktionsteam noch Wochen nach der Aufführung erreichten, und zwar quer durch alle Generationen.

Dass Neuhoff mit seinem Team diese ungewöhnliche Großproduktion finanziell stemmen konnte, war u.a. der glücklichen Einbindung der Aufführung in das Kölner Festival für Neue Musik „Acht Brücken | Musik für Köln“ zu verdanken sowie einer besonderen Vereinbarung mit dem Gürzenich-Orchester Köln im Rahmen der Kooperation mit dem Netzwerk Kölner Chöre. Organisatorisch lag das Projekt, das durch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Filmen, Einführungsveranstaltungen, Schülerprojekten und Gottesdiensten begleitet wurde, in den Händen eines Stabs aus weniger als zehn, überwiegend ehrenamtlich tätigen Leuten. Letztlich ist es Neuhoff und seiner Begeisterung für das auch musikalisch enorm anspruchsvolle Werk zu verdanken, die sich in mehr als einem Jahr Vorbereitungszeit auf über 300 Beteiligte übertrug, dass dieses ungewöhnliche Projekt realisiert werden konnte.

07.06.2016
Martin Füg