Thomas Synofzik: Robert Schumanns Chormusik Drucken

Teil X: Geistliche Werke der rheinischen Jahre (II)

Requiem op. 148

Thumbnail imageNur eine Woche nach Orchestration der Missa sacra wandte sich Schumann ab Ende April 1852 der Vertonung der Totenmesse zu, in nicht einmal zwei Wochen ist das Werk skizziert. Im Vergleich zu Vorbildern wie Mozart, Cherubini und Berlioz, deren Requiem-Vertonungen Schumann kannte, entscheidet sich Schumann für eine stark geraffte Anlage mit einer Gesamtlänge von knapp 35 Minuten. Wie bei Mozart und Berlioz erklingen die Worte „Requiem aeternam“ nur als Introitus zu Beginn, auf die Wiederholung als Graduale wird verzichtet. Ebenso unterschlägt Schumann die Wiederholungen der Antiphon „Quam olim Abrahae“ nach dem Hostias[1] und des Hosanna nach dem Benedictus – auch dies hat eine Parallele bei Berlioz, der allerdings das Benedictus komplett unvertont lässt.

Die 19 dreistrophigen Verse der Sequenz Dies irae werden von Schumann in drei Abschnitte unterteilt, durch attacca-Übergänge jedoch – ähnlich wie bei Cherubini – zu einer Einheit verschmolzen. Am befremdlichsten scheint in Schumanns Vertonung die Verschmelzung von Benedictus, Agnus Dei und Communio zu einem einzigen Teil; auch dadurch wird ein liturgischer Gebrauch jedoch nicht ausgeschlossen und Schumanns Requiem nicht automatisch zu einem „Requiem für den Konzertsaal“.[2]

Es gibt keine reinen Solosätze, die längsten Solopassagen sind die aufgrund der Verwendung der ersten Person singular traditionell solistisch vertonten Verse „Qui Mariam“ mit 30 3/4-Takten und „Recordare“ mit 26 3/2-Takten. Das im solistisch besetzten Ensemblesatz gehaltene, komplett homorhythmische Benedictus bringt es auf 21 ¾-Takte. Wie in Oper und Oratorium vermeidet Schumann somit die Nummernschreibweise und bemüht sich um größere Zusammenhänge. Die drei Abschnitte des Diese irae sind durch attacca-Übergänge verknüpft.[3]

Rahmentonart des Schumannschen Requiems ist Des-Dur, eine Tonart von der Schumann selbst schrieb, dass sie einem Orchester nur ausnahmsweise zuzumuten sei.[4] Auch war dies nicht Schumanns ursprüngliche Konzeption: Erhalten ist ein weitgehend vollständiger, bisher nicht aufgeführter 37-taktiger Entwurf zu einer Vertonung des Requiem-Introitus in d-Moll. Dann jedoch verwarf Schumann dieses für Requiem-Vertonungen traditionelle Tongeschlecht. Die Tonart Des-Dur ist bei Schumann häufig mit der Gedankensphäre von Tod und Religion, aber auch Versöhnung und Frieden verknüpft: In dieser Tonart endet die Dichterliebe op. 48, in der Oper Genoveva erklingt sie zu Golos „Frieden, zieh in meine Brust“ und in Der Rose Pilgerfahrt op. 112 den „Tod im Morgenrot“.

Im Gegensatz zu dem Moll-Entwurf verzichtet die endgültige Des-Dur-Fassung des Introitus auf ein längeres Orchestervorspiel; dieses ist auf nur einen Takt reduziert, der aber dennoch komprimiert als wesentliche inhaltliche Signatur des gesamten Werks erscheint. Durch subtile, aber dennoch deutliche harmonische Anspielungen erreicht Schumann in den Schlusstakten einen deutlichen Bezug zum Introitus.

Der stark dissonante Klang auf der dritten Zählzeit des ersten Taktes entsteht aus Übereinanderschichtung dreier Quarten (es-as-des’-ges’). In der orgelpunktartigen Passage in Takt 89 des Schlusssatzes baut sich der gleiche Akkord über dem Basston des auf und greift nun sogar als viertöniger Quartenakkord auf den Chorsatz über, während sich der Eröffnungssatz im vorletzten Takt auf einen dreitönigen Quartenakkord im Chor beschränkte.

Dass die Quarte als Motiv das gesamte Requiem prägt wurde bereits vielfach erkannt,[5] die harmonische Signatur durch die Quartenakkorde aber bisher übersehen.[6] Zehn Takte vor dem viertönigen Chor-Quartenakkord im Schlussteil gibt es zu den Worten „quia pius es“ einen dreitönigen Quartenakkord.

Gleich der erste Intervallschritt im Anfangstakt ist ein Quartsprung abwärts in den Violoncelli, die am Anfang synkopische Pendelbewegung beruhigt sich im Schlussatz zu einer in ruhig schwingenden Pendelbewegung im Dreiermetrum.

Absteigende Quarten prägen die Themen „Quid sum miser“ und „Ingemisco“ in Mittelteil der Sequenz und im Hostias. Das „Rex tremendae“ beginnt mit einem Quartsprung aufwärts. Auch alle Themen in der abschließenden Communio („Et lux perpetua“, „cum sanctis tuis“, „in aeternum“ und „quia pius es“) beginnen mit einem Quartintervall.

Besonders markant ist der Beginn der Communio mit einem scharf dissonanten des bzw. cis-Moll-Akkord mit großer Septime, der durch eine melodisch-harmonische Pendelbewegung mit Des-Dur im folgenden Takt gleich noch einmal bestätigt wird. Ein solcher Übergang zwischen Agnus Dei und Communio erzwingt die Verknüpfung der beiden Liturgie-Teile in einem musikalischem Satz. Um mit der Dissonanz auftaktig arbeiten zu können, nutzt Schumann die Ähnlichkeit von erstem („Lux aeterna luceat eis“ und fünftem Vers („et lux perpetua luceat eis“), stellt die Konjunktion „et“ voran und ersetzt „aeterna“ durch „perpetua“.

Auf den Des-Dur-Abschluss des Introitus (vgl. Nb 2) folgt der zweite Satz in leuchtendem A-Dur, bis zum Sanctus verbleiben darauf alle folgenden Sätze in Kreuztonarten. Das zunächst nur von Posaune und Bratsche exponierte Thema „Te decet hymnus“ kombiniert zwei Quartsprünge. Sein imitatorisches Potential, das Schumann z.B. im intervallisch identischen Thema „Denn heilig ist das Blut“ im Oratorium „Das Paradies und die Peri“ erprobt hatte, bleibt hier zunächst ungenutzt. Schumann verknüpft das „Te decet hymnus“ mit dem Kyrie zu einem Satz und kombiniert in einem durchführungsartigen Teil kontrapunktisch das „Te decet hymnus“-Motiv mit zwei Kyrie-Motiven. Mit Ausnahme des nur mit pizzicato-Streichern begleiteten, im Frauenchor beginnenden „Exaudi orationem meam“-Verses und des im solistischen Ensemblesatz beginnenden Kyrie-Teils bewegt sich der gesamte Satz fast durchgängig im Forte und Fortissimo, während der Anfangssatz mit stark variabler Binnendynamik operiert hatte. Opernhaft wirkt das im Piano beginnende folgende „Dies irae“, bei dem die aufsteigenden Oktavsprünge auf „irae“ und „illa“ in den Chorstimmen von Oktavglissandi in den Streicherstimmen halbtaktig antizipiert werden.

Das „Sed signifer sanctus Michael“ wartet mit Marschrhythmen auf und wird von triolischen Trompetensignalen eingeleitet. Der folgende Vers „repraesentet eas in lucem sanctam“ hingegen ist zum Pianissimo zurückgenommen und in den Außenstimmen rein deklamatorisch auf einem wiederholten Ton gehalten, die Mittelstimmen schreiten im Parallelgang chromatisch aufwärts. Fugierte Teile werden zu den Versen „Libera animas“ und „Pleni sunt coeli et terrae“ gewählt, in beiden Fällen handelt es sich um besonders rhythmisch sehr charatkeristische Themen. So zeigt sich einerseits das Bemühen um eine kontrastreiche Anlage, die aber doch durch die zyklische Bindung und motivische Verknüpfung zu einer Einheit gestaltet wird. In der Gesamtwirkung entsteht eine sehr spezifische Deutung der lateinischen Textvorlage, die schon Zeitgenossen angemessen zu charakterisieren wussten:

„Schumanns Melodien wie Harmonien [...] drücken kein Flehen, noch weniger Demuth aus, sondern vielmehr eine beseeligende, träumerische Ruhe, durch welche hindurch höchstens nur noch eine gewisse innerlichste Wehmuth sich herausfühlen läßt. Vom philosophisch dichterischen Standpuncte aus ist eine solche Auffassung allerdings wahr, aber dem orthodox katholischen Begriffe – um so mehr, als der lateinische Ritualtext beibehalten – widerspricht sie doch geradezu.“[7]


Endenicher Sterbechoräle

Thumbnail imageAls letzte bekannte Originalkomposition Schumanns gilt das Es-dur-Thema mit Variationen, das in der letzten Woche vor Schumanns Selbstmordversuch Ende Februar 1854 in Düsseldorf entstand. Am 4. März wird der Komponist daraufhin in die Privatheilanstalt in Bonn-Endenich eingeliefert, wo er die verbleibenden zweieinhalb Jahre seines Lebens zubringt. Im September 1854 wünscht Schumann von seinen Ärzten Notenpapier und ist in der Folgezeit oft mit Notenschreiben beschäftigt.[8] Als letztes konkretes Werk wird im Januar 1856 die Komposition einer heute verschollenen Fuge für Klavier erwähnt.[9] Abgesehen von einem ebenfalls verschollenen Klavierauszug zu Joseph Joachims Ouvertüre zu Heinrich IV. op. 7, den Schumann vermutlich im April 1855 begonnen hatte,[10] sind nur zwei konkrete Arbeiten belegbar und überliefert: die Klavierbegleitungen zu den Capricen von Paganini, entstanden von März bis mindestens September 1855 und zwei Choralsätze, wohl aus den letzten Lebenswochen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um neue Eigenkompositionen, sondern lediglich um Bearbeitungen.[11]

Am 1. Mai 1856 ist in den Krankenakten zum letzten Mal Klavierspiel Schumanns belegt.[12] Am 21. Juni heißt es „Ließt in einem Buche, welches er Niemanden sehen läßt. (wahrscheinlich Bibel)“, am folgenden Tag „Blättert singend[!] in der Bibel“. Vielleicht ist das ein Hinweis auf eine Beschäftigung Schumanns mit Kirchenliedern. Da Schumann am 26. Juni „in früherer Weise mit Schreiberei“[13] beschäftigt ist, könnte das erhaltene Autograph der Endenicher Sterbechoräle noch in diesem vorletzten Lebensmonat entstanden sein.

Die Originalhandschrift der beiden Choralsätze kam 1938 aus dem Nachlass von Robert Schumanns jüngster Tochter Eugenie ins Robert-Schumann-Haus Zwickau. Das Autograph gehörte dort stets zu einem der kostbarsten Ausstellungsobjekte, wurde teilweise auch in Büchern als Illustration verwendet.[14] Es handelt sich um ein mit Notenlinien in 16 Systemen versehenes Blatt, von denen nur die oberen sechs Systeme beschrieben sind. Im siebten und achten sind Notenschlüssel vorgezeichnet, jedoch keine Noten mehr eingetragen.

Der erste Choral ist vollständig notiert und mit dem Text „Wenn mein Stündlein vorhanden ist“ versehen. Die von Schumann harmonisierte Melodie ist erstmals 1569 in Frankfurt/M. belegt, der Text stammt von Nikolaus Hermann (1500-1561).

Der zweite Choral ist Fragment, er bricht nach nur sieben Takten innerhalb der vierten Choralzeile ab. Die Identifikation der wenig bekannten Choralmelodie bereitete Probleme, da weder ein textlicher Anhaltspunkt geboten war, noch die Gesamtzahl der Choralzeilen bekannt war. Dem Saarbrücker Musikwissenschaftler Werner Braun ist die Identifikation zu danken, im von Margit McCorkle herausgegebenen Werkverzeichnis konnte dem Choral somit das Textincipit „Stärk uns Mittler, dein sind wir“ zugeordnet werden.[15]

Thumbnail imageDieser heute aus den Gesangbüchern verschwundene Konfirmationschoral wurde 1793 von Justin Heinrich Knecht (1752-1817) komponiert.[16] Es war jedoch üblich, dass gerade Choräle zu derart speziellen Anlässen mit verschiedenen Paralleltexten versehen wurden, um die Melodien bei unterschiedlichen Gelegenheiten verwenden zu können. So gab auch Knecht seine Melodie unter doppelter Überschrift heraus: „Stärk und Mittler, dein sind wir“ und „Mitten wir im Leben sind“. Knechts Melodie diente somit auch als Alternative für die alte phrygische Weise nach der Antiphon „Media vita in morte sumus“ aus dem 11. Jahrhundert zu Luthers Sterbechoral „Mitten wir im Leben sind“ (1524). Angesichts der Todesthematik des ersten Chorals und der Lebenssituation Schumanns ist es plausibler, dass Schumann bei der Vertonung diesen Text im Sinn hatte.


Editionen:

Erstausgabe 1864: Requiem für Chor u. Orchester componirt von Robert Schumann. Op. 148. No. 11. der nachgelassenen Werke. Leipzig/Winterthur: Rieter-Biedermann (Part., ChSt, OM, KlA); ed. Clara Schumann 1887: AGA IX/6, Nr. 17, Leipzig: B&H (ChB + KlA (KM), OM (LM); New York: Kalmus (TP), München: Höflich (TP); ed. J. Troutbeck 1894 London: Novello; ed. Bernhard R. Appel 1993: RSA IV/3/2, Part, ChP, KlA, London: Eulenburg (TP)

Endenicher Sterbechoräle
Erstausgabe, ed. Thomas Synofzik 2006: edition choris mundi

Diskografie:

Requiem op. 148 (enthält außerdem: Franz Liszt: Via Crucis)
Isaac Karabtchevsky, Chor und Orchester des Teatro La Fenice, Emanuela Conti, Julie Mellor, Cosimo d’Adamo
MM 1587108, 2 CDs DDD/LA, 1998

Endenicher Choräle:
Düsseldorfer Singekränzchen: Sandra Diehl, Carmen Schüller, Lothar Blum, Sebastian Klein, Tobias Koch
Genuin GEN86062, CD DDD

Abbildungen:

1.: Robert Schumann, Requiem op. 148, Titelzeichnung des Erstdrucks von Friedrich Krätzschmer in Leipzig, Archiv-Nr. D-Zsch 4656-D1

2.: Robert Schumann, Wenn mein Stündlein vorhanden ist, handschriftliches Manuskript des Komponisten, Archiv-Nr. D-Zsch 10963-A1/A3

Zum Autor: Dr. Thomas Synofzik ist seit September 2005 Direktor des Robert-Schumann-Hauses Zwickau. Er studierte Musikwissenschaft, Kirchen- und Schulmusik in Dortmund und Köln, historische Tasteninstrumente in Köln und Brüssel. Schon seit seinem siebenten Lebensjahr sang er mit den Märkischen Chorknaben Unna. In den 17 Jahren, die er in Köln lebte, war er Mitglied des Kölner Kammerchores.



[1] Nach Gregory Harwood, The genesis of Robert Schumann’s liturgical works and a study of compositional process in the Requiem, Op. 148, Diss. New York 1991, war im Entwurf zunächst noch eine Wiederholung vorgesehen.

[2] So die Auffassung von Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1989 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), S. 152.

[3] Zum Problem des zweiten vgl. RSA und Harwood???

[4] NZfM 19/???:???1843, S. 17 „Vielleicht trägt zu Gedrückten, Dumpfen der Wirkung auch die Tonart, Des-dur ..., bei; das Orchester arbeitet nun einmal in diesen und ähnlichen schwer und ungern, Jean Paul würde sagen, wie in Blechhandschuhen.“

[5] Edler HArwood

[6] So subtil, dass Susanne Popp, Untersuchungen zu Robert Schumanns Chorkompositionen. Dissertation Bonn 1971, S. 95 behaupten konnte, es fehle „im Requiem an deutlich erkennbaren Erinnerungsmotiven und Zitaten“.

[7] G. Carlssohn. Robert Schumann, op. 148 [Rezension]. In: Neue Zeitschrift für Musik 60 (1864), S. 277-279.

[8] Bernhard R. Appel (Hg.), Robert Schumann in Endenich (1854-1856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte. Mainz 2006, S. 145.

[9] ebd., S. 351.

[10] ebd., S. 417.

[11] ebd., S. 31.

[12] ebd., S. 376

[13] ebd., S. 383

[14] Georg Eismann, Robert Schumann. Eine Biographie in Wort und Bild. Leipzig 1956, S. 156; Thomas Synofzik, Briefe und Dokumente im Schumannhaus Bonn-Endenich. Bonn 1993, S. [75].

[15] Margit McCorkle, Robert Schumann. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis. Unter Mitwirkung von Akio Mayeda und der Robert-Schumann-Forschungsstelle. München 2003, Anh. R18.

[16] Justin Heinrich Knecht, Biberacher Choralbuch mit Choralmelodien im vierstimmigen Originalsatz, hg. von Otto Herzog, Fritz Kolesch und Ralf Klotz, Biberach [2002]