VDKC-Präsident Ekkehard Klemm: Alles fließt – Rede zur Eröffnung des 20. Deutschen Chorfestivals Lübeck 2023 Drucken

„Musik als existenzielle Erfahrung [ist] Kunst als vom Geist beherrschte Magie“

Thumbnail image„Alles fließt“ – unter diesem Motto fand das 20. Deutsche Chorfestival 2023 in Lübeck statt. Im Rahmen seiner Eröffnungsrede nimmt Professor Ekkehard Klemm, Präsident des Verbandes Deutscher KonzertChöre (VDKC) diesen Gedanken auf, um nicht nur zum Festivalthema sondern auch zu den kulturpolitischen Dimensionen von Chormusik (nach Corona) zu reflektieren.

Einige Auszüge aus der Rede:

… Wer wüsste das besser als jene Menschen, die direkt am Wasser wohnen, leben und arbeiten! Die täglich Wind und Wellen um sich haben, alle Vor- und sicher auch einige Nachteile der flüssigen Nachbarschaft spüren und damit auch philosophisch täglich die Inspiration der Worte des mutmaßlich Heraklit zugeschriebenen Textes empfinden.

Zu den grundlegenden Erkenntnissen in Verbindung mit dem „panta rhei“ gehören wohl insbesondere drei Gedanken, die den sogenannten Vorsokratikern zugeschrieben werden:

  1. „Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“
  2. „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“
  3. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“

Natürlich ist es der große Goethe, der uns wortgewandt eine lyrische Interpretation liefert:

„Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal“

Und in seinem Gedicht „Eins und Alles“ finden wir endlich genauere Anweisungen zur Gestaltung eines Chorfestes nach dem Motto des „Alles fließt“:

„Es soll sich regen, schaffend handeln
Erst sich gestalten, dann verwandeln
Nur scheinbar stehts Momente still
Das Ewige regt sich fort in allen
Denn alles muß in Nichts zerfallen
Wenn es im Sein beharren will“

Als wir in Vorbereitung des ursprünglich für 2021 geplanten 20. Deutschen Chorfestivals bereits 2018 unser Motto suchten, war es nach meiner Erinnerung die Idee unseres hochgeschätzten Kollegen und Vorsitzenden des Künstlerischen Beirates des VDKC, Professor Jürgen Budday, lebhaft assistiert vom in Schleswig-Holstein geborenen Hayko Siemens, und auch dessen ehemaliger Lehrer Hans Gebhard, dessen wir an dieser Stelle in großer Dankbarkeit gedenken, hat es unterstützt. Wir konnten nicht ahnen, wie viel dramatisches Potenzial der Wahlspruch auch haben kann. Das, was da in mehr als zweijähriger Vorbereitung sich geregt, gestaltet und schaffend gehandelt hatte, zerfiel nach dem ersten Corona-Lockdown buchstäblich in Nichts.

Thumbnail imageAlles futsch…
... hieß es im Frühjahr 2020 ganz lapidar, von fließen konnte keine Rede mehr sein und es lohnte nicht länger, Wetten abzuschließen, ob in wenigen Monaten die Chöre wieder singen dürften. Sogar eine „Sinfonie der Tausend“ in Kooperation mit dem Philharmonischen Orchester der Hansestadt war ja geplant und damit ein Highlight, für das bereits so viele Anmeldungen unserer Sängerinnen und Sänger vorlagen, dass der Verband sich schon mit Regelungen einer Begrenzung der Teilnehmerzahl beschäftigen musste. Ein Gedanke der damaligen Neukonzeption eines abgespeckten Festivals hieß: Wir machen ein A-cappella-Festival. Doch mit den wieder aufflammenden Infektionszahlen im Herbst 2020 und neuerlichem Lockdown zerstoben auch diese Pläne und mussten abgesagt werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Wir können nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen.

Ganz andere Dinge standen in dieser Zeit im Mittelpunkt und ich darf deshalb noch einmal unseren flammenden Appell vom Mai 2021 an die damalige Bundeskanzlerin zitieren, nachdem wir uns bereits 2020 mit Dringlichkeit an die Kulturausschüsse des Bundes und der Länder gewandt hatten. In unserem Schreiben waren die Kernforderungen aufgelistet:

  • ein prinzipielles Umdenken in der Wertigkeit von Kultur in Deutschland
  • eine Beendigung des Missverhältnisses der Wirtschaftsförderung und der Kulturförderung
  • eine Fokussierung auf die Konsistenz, Differenziertheit und Plausibilität getroffener Schutzregelungen
  • eine neu zu denkende Angemessenheit von Entscheidungen und deren Kommunikation
  • eine flächendeckende und in allen Bundesländern vergleichbare Förderung von Spitze und Breite in der Verantwortung der Musikverbände
  • eine grundlegende Rettung des künstlerischen, musikalischen Laienschaffens und insbesondere des Singens als Basis des Kunst- und Musiklandes Deutschland.

Die ernüchternde Zusammenfassung an die Bundeskanzlerin im Mai 2021 lautete: „In seiner seit Jahrhunderten praktizierten Form ist Chorgesang seit Anfang März 2020 praktisch unmöglich.“

Als Initiatoren des Antrages der Aufnahme der „Chormusik in deutschen Amateurchören“ in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes konnten wir als Anknüpfungspunkt auf ein Wort der UNESCO berufen: „Heute stellen [die Chöre] das Rückgrat der Musikpflege und Musikausübung dar, ohne das die professionelle Musikausübung undenkbar ist. Die Laienchöre sind zugleich die Basis des Musikpublikums, Nährboden für künstlerischen Nachwuchs und musikalischer Partner in Tausenden von Konzerten und Aufführungen aller Art.“

An die Bundeskanzlerin erging deshalb die eindringliche Forderung: „Die Bundesregierung mit Ihnen an der Spitze hat im Jahr 2013 die Verantwortung zur Umsetzung der mit der Unterzeichnung des UNESCO-Übereinkommens zum immateriellen Kulturerbe verbundenen Verpflichtungen übernommen. Die gegenwärtigen Bedrohungen können weder die deutsche UNESCO-Kommission noch die Chöre und ihre Verbände abwenden. Wir wissen um die Gefahr der Infektion und um die Notwendigkeit, Leben zu schützen. Wir selbst sind mit vielen unserer Mitglieder, die entweder zu Risikogruppen gehören, selbst an Krankenbetten stehen oder schwere Verluste erleiden müssen, in höchstem Maße betroffen. Die sinkenden Inzidenzen sollten aber dazu führen, Kunst und Musik wieder in den Rang dessen zurückzubringen, was sie einst waren: Das Rückgrat einer Kulturnation, des Musiklandes Deutschland.“

Verbunden damit waren mehrere konkrete Anregungen, die teilweise gleichlautend auch von anderen Verbänden kamen und in den zurückliegenden Monaten durch das Staatsministerium für Kultur und Medien aufgenommen wurden. Die Umsetzung gelang nicht zuletzt, weil wir über den neu gegründeten Bundesmusikverband Chor & Orchester (BMCO) starke Partner haben. Für die vielen Initiativen der Programme Neustart Kultur und im Speziellen Neustart Amateurmusik hat der VDKC sich nicht nur ideell, sondern auch ganz praktisch mit personeller Unterstützung eingebracht. Wir setzen große Hoffnungen auf den künftigen Amateurmusikfonds, in dem wir ein wichtiges und richtiges Signal der Förderung der Verbände und vor allem der Ensembles erkennen, die im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen – und nicht nur jene in ländlichen Räumen, Neugründungen oder Initiativen im Sinne der Diversität, sondern bitte auch und vor allem bestehende Ensembles, die teils mit erheblichen Herausforderungen kämpfen und viel diverser aufgestellt sind, als viele in der Politik glauben. Ich wiederhole an dieser Stelle, was ich Claudia Roth bei einem der letzten Abende der Amateurmusik gesagt hatte: Es ist gerade die bürgerlich geprägte Mitte von Kirchen oder Musikensembles, die den Flüchtlingen geholfen, sie beherbergt und betreut hat. Ihnen – wie mitunter geschehen – mangelnde Diversität zu unterstellen, geht an den Realitäten vorbei. Natürlich werden wir die ukrainische Altistin eher finden als einen afghanischen Tenor: Dennoch sind viele unserer Chöre allen gegenüber besonders offen.

Thumbnail imageIn diesem Sinne sollten auch die Förderprogramme künftig passgenauer, flexibler und unbürokratischer sein. Mit unseren Mitarbeitenden […] hatten wir in Weimar ein starkes Team, das die Inhalte zur Stärkung des Ehrenamtes, verschiedenster Hilfsprogramme, wissenschaftlicher Studien zur Wiederaufnahme des Singens unter den neuen Herausforderungen ständig begleitet und an die Chöre kommuniziert hat. Mit dem Portal „Frag amu“ ist ein neues Medium entstanden, das alle Fragen rund um das Singen und Musizieren in Amteurensembles umfassend beleuchtet und alle sich aktuellen Rat holen können.

Alles läuft
Könnten wir nun zwei bzw. drei Jahre später beinahe sagen und tun es dennoch nur in aller Vorsicht – zu viele neue Gefahren haben sich angehäuft, insbesondere jene von Krieg und Gewalt, denen wir fassungslos und ohne wirkliche Konzepte gegenüberstehen. Auch das Klima wird vor reichlich 300 Jahren die Menschen weniger beschäftigt haben als heute.

Die Lübecker Nachrichten berichten im März 2019 über das Trio eines Journalisten, Foto- und Bildreporters der BBC, die einer legendären Reise nach Lübeck auf der Spur sind, der von Johann Sebastian Bach zu Buxtehude im Jahr 1705, 400 km zu Fuß. Horatio Clare ist mit seinem Team die möglichen Stationen nachgegangen und die Presse berichtet darüber: „[…] als sie Lübeck erreichten, wurde Horatio Clare etwas pathetisch. Es war, schreibt er, als würden sie eine Art ‚heilige Stadt‘ betreten. […] Und schließlich, als er die Marienkirche betrat, wähnte er Bach neben sich, wie der den Hut abnahm, nach oben in dieses gewaltige Gewölbe blickte und sich in eine der Bänke setzt, voller Dankbarkeit und Erfüllung.“

Laufen
unterwegs sein
neugierig bleiben
Erfahrungen sammeln
Magie erwarten
Erfüllung spüren

– könnten Ansätze sein, mit den Herausforderungen der Gegenwart fertig zu werden. Es sind, denke ich, grundlegende Erwartungen all jener, die nun zu unserem Chorfest gekommen sind.

Thumbnail imageNach dem von C. Ph. E. Bach und J. F. Agricola verfassten Nekrolog von 1754 bewog den jungen Johann Sebastian „ein besonders starker Trieb, den er hatte, so viel von guten Organisten, als ihm möglich war, zu hören, daß er, und zwar zu Fusse, eine Reise nach Lübek antrat, um den dasigen berühmten Organisten an der Marienkirche Diedrich Buxtehuden, zu behorchen. Er hielt sich daselbst nicht ohne Nutzen, fast ein vierteljahr auf, und kehrete alsdenn wieder nach Arnstadt zurück.“

Das Spiel, die Musik und das Leben in Lübeck müssen ihn stark beeindruckt haben! Befragt nach der Überziehung der Urlaubszeit um mehrere Monate beschied er: „Er sey zu Lübeck geweßen umb daselbst ein und anderes in seiner Kunst zu begreiffen.“

Singen
hören
spielen
die Kunst begreifen
die Kunst ertasten, erfühlen

„Wir Menschen sind im Singen schöpfende und schöpferische Klangwesen. Wir vermögen durch Gesang unsere Welt und unser Handeln zu beseelen, singend Liebe, Freude, Hoffnung, Zuversicht zu schenken, uns aber auch den Schmerz von der Seele zu singen“ wird im 20. Jahrhundert Sir Yehudi Menuhin umschreiben, was das Besondere des Singens gegenüber allen anderen Gattungen und Formen der Musik ist: WIR SELBST mit unserem Körper, unserem Atem und unserer Stimme sind „im Singen“ ausübende und kreativ tätige „Klangwesen“! Der Atem ist der Lebensnerv des Menschen, der aufs Innigste mit unserer Seele und dem verbunden ist, was sie bewegt. Selbst in Zeiten des Krieges sollten wir das Singen nicht einstellen, denn wir wissen von Brecht: „In den finsteren Zeiten/Wird da auch gesungen werden? Da wird auch gesungen werden/Von den finsteren Zeiten.“

Um wie viel stärker wird dieses Klangwesen, wenn es nicht Einzelne sind, die singen, sondern ein Chor! Dann wird aus den einzelnen Klangwesen geradezu ein Fabelwesen, das – musikgeschichtlich betrachtet – eine völlig neue Stufe der Entwicklung darstellt. Sie reicht von der gregorianischen Einstimmigkeit über die schlichte Mehrstimmigkeit eines Perotinus, die liturgische Strenge der ersten Motetten aus Notre Dame, die prachtvolle Fülle des Heinrich Schütz, die geistige, geistliche und seelische Tiefe eines Johann Sebastian Bach, die farbige und dramatische Vielfalt eines Georg Friedrich Händel, den romantischen Aufbruch des Felix Mendelssohn Bartholdy, die Lyrik Robert Schumanns, die Melancholie des Johannes Brahms bis hin zum Aufschrei eines Arnold Schönberg, Benjamin Britten oder den vielen Farben der Moderne.

Von all dem wird in den kommenden Tagen in Lübeck sehr viel zu erleben sein. […]

Der Komponist Helmut Lachenmann hat zwei sehr bedeutende Bücher geschrieben. Ein erster Band von 1996 ist überschrieben „Musik als existenzielle Erfahrung“, der zweite nun heißt „Musik als vom Geist beherrschte Magie“. Fast scheint es, die zwei Titel ließen sich trefflich miteinander verbinden: „Musik als existenzielle Erfahrung [ist] Kunst als vom Geist beherrschte Magie“.

Musik als eine existenzielle Erfahrung und Kunst als ein magischer Zustand sind es auch, die Chöre zum 20. Mal zu einem Fest versammeln, das an einem Ort mit besonderer Musik- und Kunstgeschichte stattfindet.

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Geist und Magie in die Welt tragen
den Wandel gestalten

Wir sind wieder bei Heraklit, Goethe und Bach, der noch zu Fuß nach Lübeck kam – das Klima war damals wohl etwas kühler, mal ganz abgesehen davon, dass er im November seinen Weg antrat. Etwas von diesem existenziellen Ansatz jedoch könnten wir in unserer Auseinandersetzung mit Kunst heute gut gebrauchen!

Thumbnail image„Alles fließt" ist unser Chorfest überschrieben. Nichts ist lebendiger, nichts existenzieller als das musikalische Erlebnis an einem besonderen, vielleicht heiligen Ort. Bach hat es in Lübeck erfahren, vor ihm bereits Händel und Mattheson, nach ihm die Chöre und das Publikum des Verbandes Deutscher KonzertChöre VDKC […]. Das Chorfest stand 2021 nur scheinbar still, das Ewige regt sich nun fort, weil wir nicht im Sein verharren wollten, sondern eine wunderschöne Idee neugestaltet und verwandelt haben.

Auf dass uns die Magie der Musik ergreife, zu der wir uns auf den Weg gemacht haben, beherrscht von einem Geist des Aufbruchs und des besonderen Miteinanders, auf dass die Musik uns beflügelt und weiterträgt im Fluss unseres Tuns – das wünsche ich der Festivalgemeinde von Herzen!

Und nun soll es endlich heißen: Alles singt!

Ekkehard Klemm, VDKC
08.09.2023