CHORizonte: Reflektionen zur Chormusik des 21. Jahrhunderts
Der 100. Geburtstag des Verbandes Deutscher KonzertChöre im Jahr 2025 erlaubt den Blick zurück aber auch den nach vorne.
Während die Verbandsgeschichte in großen Teilen aufgearbeitet und in einer eigenen Jubiläumsschrift ausführlich beleuchtet wird, beschäftigt uns eine der wichtigsten Zukunftsfragen permanent: Wie wird sich das Chorsingen der Zukunft gestalten?
In Gesprächen und Publikationen des Verbandes nimmt diese Frage einen breiten Raum ein. Nicht nur der Wirkungskreis des Verbandes Deutscher KonzertChöre selbst konnte schon in einen solchen Kontext gestellt werden, es ergaben sich auch Reflektionen von Menschen, die sich ebenfalls täglich mit diesem Thema beschäftigen und die hier veröffentlicht werden können.
Das Projekt CHORizonte versammelt Interviews, Essays und Beiträge, die sich mit den Themen Nachwuchsförderung, neue Chormusik, Schwerpunkte künftiger Chorarbeit, Aufgaben der Chorverbände, Verpflichtungen der Politik und Gesellschaft zum Schutz des immateriellen Kulturguts „Chormusik in deutschen Amateurchören“ und vielem mehr beschäftigen und die sinnstiftend sind als Anregung, Diskussionsgrundlage und Stimmungsbild.
Die Serie mündet in eine Öffentliche Podiumsdiskussion am Samstag, 10. Mai 2025, 14:30 Uhr im Bauhaus-Museum Weimar. Dort diskutieren:
- Prof. Ekkehard Klemm (Dirigent, Präsident des VDKC)
- Prof. Dr. Michael Maul (Musikwissenschaftler, Intendant des Bachfestes Leipzig)
- Prof. Judith Mohr (Chordirigentin, UdK Berlin, Vorsitzende des Künstlerischen Beirats des VDKC)
- Prof. Hans-Christoph Rademann (Dirigent, HfM Dresden, Künstlerischer Leiter Bachakademie Stuttgart)
- Prof. Dr. Charlotte Seither (Komponistin, Mitglied im GEMA-Aufsichtsrat, im Vorstand des Deutschen Komponistenverbands und im Präsidium des Deutschen Musikrats).
Die Veranstaltung wird von Claus Fischer (mdr, Dlf, rbb) moderiert.
CHORizonte-Interview:
Ekkehard Klemm im Gespräch mit Martin Lehmann (Chorleiter, Kirchenmusikdirektor, Kreuzkantor) am 22. Februar 2025
E.K.: Der Dresdner Kreuzchor ist eine der größten musikalischen Nachwuchsschmieden des Landes, zahlreiche Sänger, Dirigenten, aber auch Regisseure entstammen der Kreuzschule und dem Chor. Wie werden aktuell die Jungs gefördert, welche besonderen Initiativen unterstützen eine spätere Karriere in der Musik?
M.L.: In vielen Familien wird heutzutage weniger gesungen als noch vor 20,30 Jahren und somit kommen Kinder oft erst spät mit Musik in Berührung. Um dieses Defizit aufzuholen, bieten wir musikalische Nachwuchsangebote bereits im Vorschulalter mit wöchentlichen Singstunden an, später erhöht sich die Frequenz. Dabei erhalten die Jungen eine umfassende Ausbildung, die weit über das Singen hinausgeht. Neben der Entwicklung ihrer Stimme lernen sie Musiktheorie, erhalten Instrumental- und Gesangsunterricht und befassen sich teilweise sogar mit Komposition. Dabei decken wir ein breites Repertoire ab – von der Musik der Renaissance bis hin zu zeitgenössischen Werken.
In den höheren Klassen werden besonders talentierte Sänger zusätzlich durch spezielle Programme gefördert, wie zum Beispiel den Jungpräfektenunterricht. Hier lernen die Jungen, zu dirigieren und Korrepetitionsaufgaben zu übernehmen. Diese Fähigkeiten ermöglichen es ihnen, in den letzten Jahren ihrer Laufbahn im Amt des Chorpräfekten Verantwortung zu übernehmen und den Probenprozess aktiv mitzugestalten. Die hier gesammelten Erfahrungen prägen weit über musikalische Kompetenzen hinaus fürs Leben. Wer später auch beruflich den Weg in die Musik einschlagen will, hat zudem die Chance auf das jährlich vergebene Rudolf-Mauersberger-Stipendium der Stiftung Dresdner Kreuzchor.
Mit den „Singschulen“ in den ländlichen Regionen knüpft der Dresdner Kreuzchor an eine Art der Förderung an, die in die Zeit von Rudolf Mauersberger zurückreicht, der über ein weites Netz von Kantoren verfügte, die ihm den Nachwuchs vorbereitete. Wie ist die neue Struktur aufgebaut, gibt es schon erste Erfolge und wie wird es weitergehen?
Mit den „Singschulen“ knüpfen wir derzeit gemeinsam mit dem Förderverein des Dresdner Kreuzchores ein Netzwerk in ländlichen, strukturschwächeren Regionen, in denen die Verantwortung für die musikalische Grundlagenausbildung meist auf den Schultern von nur wenigen ehrenamtlich Engagierten lastet. Während früher Kantoren gezielt talentierte Jungen im sächsischen Umland auf den Kreuzchor vorbereiteten, wissen viele Kinder heute gar nicht, dass sie musikalisches Talent haben. Um dieses Talent zu entdecken, zu fördern und zu formen, bieten wir wöchentliche Singstunden aktuell in Bautzen, Chemnitz, Ehrenfriedersdorf, Kamenz, Meißen, Niesky und Radeberg an. Unter der Anleitung erfahrener Musikpädagoginnen und -pädagogen entdecken die Kinder so die eigene Stimme und auch die Freude am gemeinsamen Singen, die sich normalerweise von ganz allein einstellt.
Die Singschulen, die übrigens ohne die Unterstützung der Beisheim Stiftung überhaupt nicht möglich wäre, leisten so einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des ländlichen Raums, indem sie kulturelle Angebote schaffen und ein Gemeinschaftsgefühl fördern. Erste Erfolge zeigen, dass dieses Konzept aufgeht. Und auch, wer im Anschluss nicht den Weg in den Kreuzchor wählt, behält die musikalischen Kompetenzen, die er erworben hat. Zukünftig soll das Projekt weiter ausgebaut werden, um noch mehr Kinder zu erreichen und das Singen in der Gesellschaft nachhaltig zu verankern.
Mit neuen liturgischen Kompositionen wurden zuletzt wieder vermehrt zeitgenössische Akzente gesetzt. Nun stand die Uraufführung eines Requiems für den Dresdner Gedenktag von Sven Helbig an, René Pape, ehemaliger Kruzianer war als Solist zu erleben: Wie klingt die Chormusik des 21. Jahrhunderts? Was gibt es für Ideen und Projekte, neue Werke zu präsentieren? Welche Anforderungen können Amateurchöre leisten und was können und müssen wir tun, um den Blick von der Tradition in die Zukunft zu lenken?
Die Chormusik des 21. Jahrhunderts steht im Spannungsfeld von Tradition und neuen Ausdrucksformen. Beim Kreuzchor greifen wir diesen Impuls auf, indem wir neben klassischen Werken auch zeitgenössische Musik aufführen. Bereits in meinem ersten Amtsjahr wurden die sonntäglichen Introiten zur Aufführung in Vesper und Gottesdienst von Wilfried Krätzschmar vertont, in den folgenden Jahren gab es Kompositionsaufträge an Agnes Ponizil und Jan-Arvid Preé. So ist inzwischen ein schönes Kompendium an neuer liturgischer Musik entstanden.
Mit Sven Helbigs „Requiem A“ konnten wir ein Thema beleuchten, das mir seit langer Zeit am Herzen liegt: Wie gedenkt man angesichts neuer nationalistischer Tendenzen und einer Rückkehr des Kriegs nach Europa der Zerstörung Dresdens 1945? Dazu griff Sven Helbig auf die Idee des Gesamtkunstwerks zurück und arbeitete auch mit Visuals und Elektronik. Ich glaube auch deshalb ist es uns gelungen, einen Beitrag zu aktuellen Debatten zu leisten und dabei auch neues Publikum zu erreichen. Dass sich über 3.000 Menschen auf ein noch nie gehörtes Werk einlassen und am Ende bewegt und berührt auch von der Darbietung aller Beteiligten nach Hause gehen – das war für mich eine Sternstunde für die zeitgenössische chorsinfonische Musik und ein starkes Statement des Dresdner Publikums für Zusammenhalt und Toleranz.
Um solche außergewöhnlichen Projekte zu realisieren, braucht es neben der wichtigen finanziellen Unterstützung durch Partner vor allem auch den Mut und die Flexibilität, sich auf Neues, vielleicht zunächst Ungewohntes einzulassen. Denn neue Werke und Ausdrucksformen fordern einen Chor nicht nur heraus, sie können auch neue Perspektiven eröffnen. Dabei bedeutet der Blick in die Zukunft nicht zwangsläufig, Tradition aufzugeben, sondern sie lebendig zu halten und mit neuen Impulsen zu bereichern.
VDKC
08.04.2025