capella vocalis präsentiert Auftragswerk von Immanuel Ott Drucken

Uraufführung des Agnus Dei als Friedensbitte

Thumbnail imageDas Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen, das gegenseitige Verstehen und daraus resultierend ein friedliches Miteinander ist ein Thema, das die Gesellschaft von jeher und auch aktuell bewegt. Frieden erwächst aus gegenseitigem Verständnis und dieses Verstehen prägte die diesjährige Uraufführung der Reihe „music of our time“. Jener „Neue Musik-Zyklus“ zählt zu den wichtigsten programmatischen Neuerungen des Reutlinger Knabenchores capella vocalis.

2014 von seinem künstlerischen Leiter Christian Bonath initiiert, vergibt das vielfach prämierte Ensemble jährlich einen Kompositionsauftrag für eine zeitgenössische Tondichtung. Nach den Themen Pfingsten 2014 (B. Petersen: Linguae), Gryphius 2015 (J. Blume: Der Mensch, das Spiel der Zeit) und Vater unser 2016 (C. Bonath: our_vater_noster) widmete sich die Thematik 2017 der Friedensbitte „Dona nobis pacem“. Mit Prof. Dr. Immanuel Ott, Rektor der Musikhochschule Mainz und Vorsitzender der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) konnte wieder ein prominenter Komponist gewonnen werden. Die Konfrontation der jugendlichen Sänger mit den alljährlichen Uraufführungen soll vor allem die Offenheit und das Verständnis für die Musik der Gegenwart öffnen und fördern: „Wir wünschen uns, dass die Jungs neugierig werden, wie Musik ihrer Zeit abseits der Popkultur klingt“, führt Bonath aus.

Immanuel Ott hat sich 2017 dem gegebenen Thema „Dona nobis pacem“ über die Vertonung des liturgischen Agnus Dei-Textes genähert. Die abschließende Bitte „dona nobis pacem“ („Gib uns Frieden“) des liturgischen Gesangs verwirklicht er als eine friedvolle Koexistenz zweier Tonsysteme. Dazu der Komponist: „Die Komposition folgt rhythmisch und melodisch bestimmten Merkmalen der Musik der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert. Die kontrapunktische Denkweise dieser Zeit, nach der ein mehrstimmiger Satz aus Einzelstimmen und individuellen Melodien entsteht, kann als gelebte gesellschaftliche Utopie im Kleinen verstanden werden: Aus dem Miteinander der Einzelstimmen entsteht eine neue, größere Einheit. Die Einzelstimmen von Agnus Dei folgen dabei unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Als Grundlage dient ein annähernd 700 Jahre alter Agnus-Dei-Tropus, der notengetreu als Cantus firmus eingesetzt wird und während der gesamten Komposition erklingt. Die anderen Stimmen folgen im melodischen Verlauf unterschiedlichen arabischen Modi, sogenannten Maqamat (sing. Maqam-Leitern mit Vierteltonschritten). Agnus Dei entwickelt seine pazifistische Dramaturgie somit auf drei Ebenen: Als polyphone Komposition nach dem Vorbild des Renaissance-Kontrapunkts, im gleichberechtigten Miteinander des christlichen Agnus-Dei-Tropus mit Materialien der arabischen Musik sowie in der zunehmenden Ausdehnung der melodischen Vorlage auf mehrere Stimmen des Satzes.  Agnus Dei soll wie eine Komposition der Renaissance aufgeführt werden. Interpretatorisch können sich alle Freiheiten genommen werden. Auch im Hinblick auf die Aufführungssituation werden keine Einschränkungen gemacht: Die Komposition kann von einem großen oder einem kleinen Chor gesungen werden, einzelne Passagen können solistisch besetzt, Chorgruppen im Raum verteilt, einzelne oder mehrere Stimmen durch Instrumente ersetzt oder unterstützt werden etc.“ 

Für die Uraufführung in der kath. Hauptkirche St. Wolfgang in Reutlingen entscheid sich Dirigent Bonath für eine gemischt vokal-instrumentale Besetzung; so wies er den Sängern das Cantus firmus-Material, den Instrumenten (Streichern) die kontrapunktischen Maqam-Abschnitte zu, um die beiden Ebenen bewusst zu trennen, auch wurden die Instrumente im Raum platziert und die Sänger bei der Hauptorgel. So konnten die Zuhörer ein spannungsreiches Geflecht aus dem, dem modalen Raum verpflichteten, gregorianischen Choral und der äußerst fremdartigen Kontrapunktik der Streicher erleben. All dies verband sich in einer abschließenden Klimax: Der Cantus Firmus wird in einem Dreifach-Kanon in der Sexte geführt, gerahmt von den Maqamstimmen schwingt das Werk in großen Triolen auf einem schwebenden G-Dur Akkord aus.

Eingebettet war die Tondichtung in einen spannungsreichen Kontext des übrigen Konzertprogramms: Pärt-Tavener-Britten-Reger-Brahms und Mendelssohn waren mit Kompositionen zur gleichen Thematik zu erleben. Mit großem Beifall wurden die ausführenden Künstler sowie Immanuel Ott im Anschluss für ihre großartige Leistung belohnt.

capella vocalis
20.11.2017