Anregung zur Programmgestaltung: Sächsisches Vocalensemble – „Wie liegt die Stadt so wüst“ Drucken

A-cappella-Werke aus sechs Jahrhunderten im Gedenken an das Ende des II. Weltkrieges

Thumbnail imageIm Gedenken an das Ende des II. Weltkrieges vor 75 Jahren entwickelte das Sächsische Vocalensemble für eine Aufführung in der Annenkirche in Dresden ein Konzertprogramm mit A-cappella-Chorliteratur, das einen Bogen über sechs Jahrhunderte spannt. Die Aufführung erfolgte am 19. September 2020. Das Programm wurde erstmals bei den 50. Merseburger Orgeltagen am 15. September 2020 aufgeführt und von Matthias Jung konzipiert.

Allen Werken ist der thematische Bezug zu Krieg, Leid, Trauer, Zerstörung und Tod, aber auch zu Frieden gemeinsam. Die Dramaturgie nimmt bewusst Charakter und Wesen der Werke auf und erzielt auf diese Weise auch eine unmittelbare Wirkung durch die Abfolge der Musik. Die Programmzusammenstellung ist beispielhaft gelungen und soll an dieser Stelle vorgestellt werden. Für zahlreiche Anlässe eignen sich derartige Werkzusammenstellungen und -kombinationen. Chöre, die sich mit dieser Thematik näher auseinandersetzen wollen, finden hier eine gelungene Umsetzung als Anregung für das eigene Wirken.

Die folgende Einführung beleuchtet die facettenreiche Musiksprache des Programmes:

Unvorstellbar ist das Ausmaß des Leids, der Zerstörung, des Todes und der Trauer, die der II. Weltkrieg verursacht hat. Seinem Ende vor (fast auf den Tag genau) 75 Jahren am 2. September 1945 wird in diesem Konzert gedacht.

Es erklingen zwölf Werke für Chor a cappella, die einen großen historischen Bogen von nicht weniger als sechs Jahrhunderten umspannen, angefangen bei einem äußerst kurzen, zugleich faszinierend klanggewaltigen Agnus Dei von Tomás Luis de Victoria, erstveröffentlicht 1600, bis hin zur neuesten, 2006 vollendeten Komposition, dem „Da pacem Domine“ von Arvo Pärt. Aus dieser Programmatik ergibt sich eine sehr große, reizvolle, belebende Vielfalt der Musiksprachen.

Häufig existiert bei den zu hörenden Werken ein konkreter Kriegsbezug. Jene „Missa pro victoria“ (übersetzt also „Messe für den Sieg“), aus der das genannte Agnus Dei stammt, entlehnt ihren Titel z.B. nicht aus der Namensgleichheit mit dem Komponisten. Sie geht thematisch auf die weltliche Chanson „La guerre“ (Der Krieg) von Clément Janequin zurück, entstanden aus Anlass des französischen Sieges in der Schlacht von Marignano des Jahres 1515. Während Heinrich Schütz seine „Geistliche Chormusik“ im Jahre 1648 als Friedensbeitrag nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geschrieben hat, schuf Max Reger während des I. Weltkrieges seine „Acht geistlichen Gesänge“, und Rudolf Mauersberger verarbeitete in seiner Vertonung von Auszügen aus den Klageliedern Jeremiae unmittelbar die Zerstörung Dresdens im Februar 1945. Schließlich widmete Mikis Theodorakis seine Liturgie Nr. 2, aus der das gewählte Abendgebet stammt, im Untertitel „[d]en Kindern, getötet in Kriegen“.

Interessant sind die das Konzert bestimmenden inhaltlichen Ebenen: In ständiger gegenseitiger Ergänzung werden Krieg, Trauer und Friedensbitte unterschiedlich verarbeitet. Im Sinne einer Anklage an jegliche kriegerischen Handlungen ist eines der beiden schon aufgrund der zeitlichen Länge herausragenden Werke zu deuten: Hanns Eislers Vertonung des Textes „Gegen den Krieg“ von Bertolt Brecht entpuppt sich als zwölftöniges Thema mit 24 folgenden Variationen, in die auch eine abschließende Fuge integriert ist. Bei dieser doch sehr technokratisch anmutenden Konzeption ist es erstaunlich, wie differenziert, klangbewusst und hoch emotional Eisler die verschiedenen Ausdrucksbereiche des Textes musikalisiert, wobei das kriegsassoziierende Marschieren schon in der Rhythmik des Themas angedeutet scheint.

Weiteres zentrales Werk des Konzertes ist Kurt Hessenbergs wohl bekannteste Komposition, seine Vertonung eines Textes von Franz von Assisi: „O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens“. Sie entstand wenige Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges. Die im Prinzip bogenförmig und zugleich gegensätzlich aufgebaute Komposition nimmt unmittelbar durch die gewählte Klangsprache und die konkret fassbare, verständliche Umsetzung der im Text dargestellten Inhalte gefangen.

Ähnlich gilt dies in vergleichbarer Stilistik selbstverständlich für Mauersbergers titelgebende Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ oder – in gänzlich anderer, barocker Tonsprache – für Schütz‘ Auszüge aus seiner „Geistlichen Chormusik“, ebenso für Bachs gleichfalls aus einem Traueranlass geschriebene doppelchörige Motette „Komm, Jesu, komm“. Hinzu tritt als einer der faszinierendsten Chöre aus seiner letzten Schaffensphase Max Regers Motette „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit“ in berückender Schlichtheit, mit aparten harmonischen Wendungen, archaisch und romantisch zugleich.

Schließlich bereichern das Programm mehrere Werke, die aufgrund ihres kompositorischen Minimalismus‘ faszinieren: Gleich das Eröffnungsstück von Urmas Sisask, das ausschließlich die kurze Friedensbitte vertont, stellt sich weitestgehend als zweistimmig kanonisches Werk heraus. Die

Kombination von Dreiklangs- und Skalentönen, charakteristisch für die Tonsprache Arvo Pärts, beeindruckt erneut in seinem bereits erwähnten „Da pacem Domine“, einem meditativen, ergreifenden Werk, entstanden zwischen 2004 und 2006 als Reaktion auf die Bombenanschläge in

Madrid. Die berührende Einfachheit einer strophisch sich wiederholenden Melodie mit nicht zu erwartender klanglicher Ausweitung tritt uns bei Theodorakis‘ Abendgebet vor Ohren. Und den

Abschluss des Konzertes bildet eine ebenfalls minimalistisch angelegte, mit sehr vielen reizvollen melodischen und harmonischen Vorgängen durchsetzte, äußerst differenziert angelegte Motette von Knut Nystedt. Inhaltlich löst sie die mehrfach im Konzert geäußerte Bitte um Frieden schließlich in der Friedenszusage ein.

Vitus Froesch, VDKC
15.01.2021

Programm

Urmas Sisask (*1960): Dona nobis pacem

Hanns Eisler (1898-1962): Gegen den Krieg, op. 55

Heinrich Schütz (1585-1672): Verleih uns Frieden genädiglich, SWV 372, aus: „Geistliche Chormusik“ (1648)

Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit, SWV 373, aus: „Geistliche Chormusik“ (1648)

Kurt Hessenberg (1908-1994): O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens, op. 37 Nr. 1, aus: Zwei Motetten

Arvo Pärt (*1935): Da pacem Domine

Johann Sebastian Bach (1685-1750): Komm, Jesu, komm, BWV 229

Rudolf Mauersberger (1889-1971): Wie liegt die Stadt so wüst, RMWV 4/1, aus dem Zyklus „Dresden“

Max Reger (1873-1916): Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit, op. 138 Nr. 1, aus: „Acht geistliche Gesänge“

Mikis Theodorakis (*1925): Abendgebet, aus: Liturgie Nr. 2 („Den Kindern, getötet in Kriegen“)

Tomás Luis de Victoria (1548-1611): Agnus Dei, aus der „Missa pro victoria“

Knut Nystedt (1915-2014): Peace I leave with you, op. 43 Nr. 2, aus: Drei Motetten