Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem in d-Moll KV 626 Drucken

Anmerkungen zu einer Neufassung von Michael Ostrzyga

Thumbnail imageEs hört nicht auf! Im Umgang mit dem Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart teilt sich die Musikwelt in zwei Fraktionen. Die eine Seite betrachtet das Werk als unantastbares musikalisches Heiligtum, die Gegenseite leidet unter nagendem Unbehagen, geschürt durch zahlreiche Kritiker, die sich nicht mit den Ergänzungen von Franz Xaver Süßmayr abfinden können. Die Entstehungsgeschichte ist bekannt: Wolfgang Amadeus Mozart erhielt im Sommer 1791 durch einen geheimnisvollen Boten den Auftrag zur Komposition einer Totenmesse. Der Mann war ein Abgesandter des Grafen Franz von Walsegg-Stuppach, der bei bekannten Komponisten seiner Zeit für gutes Geld Stücke bestellte und sie dann als seine eigenen ausgab. Ungeachtet ihres fragmentarischen Charakters nimmt die Komposition einen Platz in der ersten Reihe der Meisterwerke der Musikliteratur ein.

Vollständig ausgearbeitet hat Mozarts die Sätze Introitus und Kyrie, in der Sequenz „Dies irae“ sind die Singstimmen von Mozart, die Orchestrierung ist richtungsweisend angedeutet. Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr (1766–1803) hat die Instrumentierung vorgenommen und Sanctus, Benedictus und Agnus Dei selbständig hinzukomponiert, möglicherweise gestützt auf Skizzen oder Anweisungen Mozarts, darunter die sogenannten „Zettelchen“. Ohne Süßmayrs Arbeit wäre Mozarts Requiem für die Nachwelt möglicherweise verloren gewesen, wenn auch von jeher vor allem seine Instrumentation als problematisch empfunden wurde, eine stete Herausforderung an den praktischen Musiker.

Im Jahre 1971 hat Franz Beyer eine neue Orchesterfassung vorgelegt, die dem Werk eine durchsichtigere Klanggestalt verlieh. Rasch wurde diese Beyer-Fassung zur Grundlage vieler Aufführungen und Tonaufnahmen von Nikolaus Harnoncourt über Neville Marriner bis zu Leonard Bernstein. Weitere Neufassungen des Mozarts-Requiem ließen nicht auf sich warten, darunter die beachtenswerten, in ihrer Zielsetzung unterschiedlichen Lesarten von Richard Maunder, H.C. Robbins Landon, Robert Levin, Duncan Drace, Marius Flothuis und Masaaki Suzuki. Mehrere der genannten Bearbeiter haben in der Folgezeit ihre Versionen in Einzelheiten revidiert. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik scheint nie zur Ruhe zu kommen, ein „work in progress“.

Die jüngsten Stimmen im Chor der Bearbeiter dürften nun die Fassung von Howard Arman aus dem Jahre 2020 und die kürzlich bei Bärenreiter im Druck erschienene Arbeit des Kölner Universitäts-Musikdirektors Michael Ostrzyga sein, deren endgültige Fassung nach mehrjährigen Forschungsarbeiten und ersten Voraufführungen (u.a. in den USA) schließlich im Sommer 2019 beim Rheingau-Festival im Kloster Eberbach erklang. Im Juli 2022 erschien das komplette Aufführungsmaterial mit umfangreichen Begleittexten, dazu ein Buch “Fakt und Fiktion – Das Requiem Mozarts - Eine Einführung“, wo Michael Ostrzyga Zeugnis ablegt von der äußerst umfangreichen und sorgfältigen, verantwortungsbewussten Vorarbeit. Höchst lesenswert!

Die „Ostrzyga-Version“ verläuft zunächst eher unspektakulär. Der „runderneuerte“ Orchesterpart ist so sensibel ausgearbeitet, dass in erster Linie die Intimkenner und Partiturleser die zahllosen wohldurchdachten Veränderungen bemerken, später lassen da eher die gelegentlichen Eingriffe in die Harmonik im „Benedictus“ und „Agnus Dei“ aufhorchen.

Thumbnail imageEine Besonderheit dieser Edition ist, dass an zwei Stellen Alternativen zur Wahl stehen. In Takt 21 des Lacrimosa geht es entweder auf vertrautem Pfad weiter bis zu den zwei schlichten Schlussakkorden – oder man biegt ab in Richtung A-Dur, um das Tor für eine Amen-Fuge zu öffnen. Aus der 16-taktigen Amen-Skizze hat Michael Ostrzyga ein stattliches Gebilde von 89 Takten entwickelt mit allerlei kontrapunktischen Kunststücken nach dem Vorbild von Johann Sebastian Bach.
Für das Sanctus stehen zwei Versionen zur Auswahl: Die eine beginnt in vertrautem, strahlendem D-Dur, ihre Fuge ist gegenüber Süßmayr ausgeweitet. Das Benedictus in B-Dur moduliert dann für das „Hosanna“ nach D-Dur zurück.
Einen verblüffenden Effekt hält indessen die Alternativ-Version für den Beginn des Sanctus bereit: Nicht strahlendes Dur, sondern das düstere d-Moll des „Dies irae“ und des „Don Giovanni“ ertönt. Schade, dass die geradezu umwerfende Wirkung jedoch schon nach sechs Takten verebbt. Immerhin ermöglicht ein Sanctus-Beginn in der tragischen Tonart d-Moll den Erhalt des B-Dur-„Hosanna“ aus Süßmayrs Autograph, das bislang als satztechnisch einwandfreier Satz nicht erkannt wurde und „erstaunlicherweise nach wie vor im toten Winkel der wissenschaftlichen Rezeption liegt“ (Ostrzyga).
Michael Ostrzygas ausgereifte Version des Mozart-Requiem hat große Beachtung und angemessene Verbreitung im Musikleben verdient.

Informationen:

Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem, vervollständigt und herausgegeben von Michael Ostrzyga, Partitur mit kritischem Bericht (engl.), Bärenreiter-Verlag, ISMN 979-0-0065-6919-9, Euro 69,-, Klavierauszug, ISMN 979-0-0065-6926-7, Euro 14,95 | Bestellung

Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem, Gabriela Scherer (Sopran), Anke Vondung (Alt), Tilman Lichdi (Tenor), Tobias Berndt (Bass), Chorwerk Ruhr, Concerto Köln, Florian Helgath (Leitung), Coviello Classics, 1 CD, COV 92009, Euro 19,99.

Theo Römer
12.12.2022