Was ist Urtext? – Drei Herausgeber antworten Drucken

Jonathan Del Mar, Hendrik Schulze und Michael Stegemann im Interview

„Urtext“: wissenschaftliche Methode oder Marketingkonzept? Ein schillernder Begriff in jedem Fall, der immer wieder Anlass zu Diskussionen bietet.

Der Bärenreiter-Verlag hat mit Jonathan Del Mar, Hendrik Schule und Michael Stegemann drei Herausgeber von Urtext-Ausgaben gefragt, was sie unter „Urtext“ verstehen:

Thumbnail imageJonathan Del Mar

Wofür braucht man eine Urtext-Ausgabe?
Del Mar: Nun, wollen Sie die Noten spielen, die der Komponist komponiert hat, oder zufällige und falsche Noten, die irgendwann in eine Ausgabe hineingerutscht sind?

Ist der Urtext nicht ganz einfach im Manuskript des Komponisten zu finden?
Nein, so einfach ist das nicht. Oft denkt ein Komponist weiter, er ändert seine Meinung, aber das Manuskript ist schon beim Drucker. Was also muss er tun? Er fragt den Verleger nach einem Korrekturabzug und schreibt die letzten Änderungen hinein. Wenn wir dann den Erstdruck anschauen, steht dort etwas ganz Anderes als im Manuskript, was ziemlich sicher auf die letzten Änderungen im Korrekturabzug hinweist.

Aber natürlich kann man auch im Manuskript noch vieles entdecken. Oft verwenden Herausgeber für ihre Ausgaben schlechte Kopien, auf denen ein Pünktchen oder ein Loch wie ein Staccatozeichen aussehen. Genauso kann es passieren, dass man den Ausdruck eines Mikrofilms untersucht und eine Note sieht wie ein F aus, ist aber im Manuskript zweifelsfrei ein G. Niemand kann sagen, wie das geschehen kann, aber es geschieht! Das bedeutet, dass sich Herausgeber, die sich der Mühe unterziehen, das Autograph zu untersuchen, immer noch Entdeckungen machen können.

Was also bedeutet Urtext für Sie?
Eine Ausgabe, die sorgfältig und erschöpfend alle Quellen untersucht, um nach bestem Wissen und Gewissen der Absicht des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen.

Was bedeutet „Quellen“?
Alles, an dem der Komponist seinen Anteil hatte. Also nicht allein sein Manuskript, sondern auch eine Abschrift durch einen Kopisten mit Korrekturen des Komponisten, ebenso Erstdrucke, an denen er Änderungen vorgenommen hat, Briefe an den Verleger, in denen Fragen des Werks diskutiert wurden, einfach alles, was Bedeutung für eine Edition hat. Manchmal sogar noch mehr: Nehmen Sie zum Beispiel handschriftliche Stimmen, die der Komponist für eine Aufführung verwendet hat und für die er Änderungen diktiert hat. Die Musiker tragen sie sich ein, und dann werden diese Stimmen als Vorlage für die Erstausgabe verwendet. Wenn die handschriftlichen Stimmen dann vernichtet werden, haben wir nur noch den Erstdruck. Diese gedruckten Stimmen sind eine bedeutende Quelle, weil sie auf authentische Korrekturen des Komponisten in den Proben zurückgehen.

Warum muss es immer wieder neue Editionen geben?
Am deutlichsten ist dies, wenn ein verloren geglaubtes Autograph wieder auftaucht. Dies war besonders bei Werken von Mozart, Beethoven, Schubert und Mendelssohn der Fall, die im Krieg aus Berlin an sichere Orte ausgelagert wurden. Danach konnte sich unglücklicherweise niemand daran erinnern, wo sie waren. So galten sie als verschollen, bis sie 1977 in Polen auftauchten. Vorher sind viele Editionen veröffentlicht worden, die danach alle revidiert werden mussten.

Auch Auktionshäuser tragen dazu bei, dass wir nicht vergessen, denn einige Manuskripte sind in Privatbesitz, so dass Forscher nicht an sie herankommen. Oft kommen solche Dokumente zur Versteigerung, und wir haben kurz die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Noch mehr Glück haben wir, wenn eine öffentliche Institution das Autograph erwirbt, so dass es für Wissenschaftler zugänglich wird und für die nächste Edition verwendet werden darf.

Ein weiterer Grund, warum alte Ausgaben, sogar Urtext-Editionen, von neuen ersetzt werden, ist – man muss es sagen –, dass nicht jeder Herausgeber seine Aufgabe so gut erledigt wie ein anderer. Er macht Fehler, trifft dumme Entscheidungen, die jeder Musiker sofort als falsch erkennt, er übersieht offensichtliche Dinge und entscheidet, dass eine Quelle keine Relevanz hat, obwohl ein anderer Forscher sie für sehr wichtig hält. So belegt ein Herausgeber die Fehlerhaftigkeit einer alten Ausgabe und beweist, dass seine Lösungen die des Vorgängers ersetzen muss.

Was haben Musikerinnen und Musiker von Urtext-Ausgaben?
Das hängt davon ab, um welche Ausgabe es geht. Manche sind so schlechtgemacht, mit so geringem Verstand für die Musik und ihre Tradition, dass sie schädlich sind. Sogar die frühere Ausgabe war besser! Sie mag Fehler enthalten, aber die kann man verbessern. Wenn einem Musiker aber ein fehlgeleiteter Forscher erklärt, dass ein A in der Erstausgabe „offensichtlich“ ein G sein müsse, dann wird er von der (augenscheinlichen) Autorität des Herausgebers eingeschüchtert sein und G spielen, auch wenn der Komponist wirklich A meinte, so unerwartet es dem Herausgeber auch vorkommt.

Wenn man Glück hat, verfügt eine Ausgabe über einen Kritischen Bericht. Manche haben so etwas nicht, und man muss dann dem „unfehlbaren“ Verstand vertrauen, auch bei Druckfehlern. Das fordert einen Vertrauensvorschuss, der oft unbegründet und unberechtigt ist.

Ein Nutzer sollte also, bevor er sein Geld ausgibt, erwarten dürfen, dass er einen Kritischen Bericht bekommt, in dem ihm die editorischen Entscheidungen erläutert werden. Auch wenn es einen gibt, ist nicht klar zu sagen, ob eine Edition gut oder schlecht ist. Die einzige Möglichkeit wäre es, andere Musiker zu fragen, ob sie Erfahrungen mit Ausgaben dieses Komponisten bei diesem Verlag haben, und ob sie plausibel erscheinen.  Sonst bleibt nur, sich zu informieren, ob ein Herausgeber die Quellen sorgfältig geprüft hat, ob er seine Hausaufgaben mit Verantwortungsbewusstsein gemacht hat und ob er einen exakten Notentext erarbeitet hat, der alte Fehler beseitigt. Mit Glück kann man so etwas finden. Und zum Schluss: Die Ausgabe sollte klar auf gutem und robustem Papier gedruckt sein, auf dem man Eintragungen machen und wieder wegradieren kann, ohne Löcher zu riskieren.

Der Engländer Jonathan Del Mar (* 1951) ist Dirigent und Musikwissenschaftler. Mit der Herausgabe der neun Symphonien Ludwig van Beethovens im Bärenreiter-Verlag (1996–2000) hat er für Furore gesorgt. Zahlreiche bedeutende Dirigenten verwenden diese Edition seitdem. Anschließend hat Del Mar zahlreiche weitere Werke Beethovens in Urtext-Ausgaben für Bärenreiter erarbeitet: Konzerte, Cellowerke, Streichquartette, Klaviersonaten, außerdem das Cellokonzert und die 7. Symphonie von Antonín Dvořák sowie das Cellokonzert von Edward Elgar.

Thumbnail imageHendrik Schulze

„Urtext“, was bedeutet das für Sie?
Urtext bedeutet für mich sehr sorgfältig erstelle Editionen nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die eine perfekte Grundlage für wunderbare Aufführungen der Werke dienen können. Wichtig ist immer die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis.

Ist der „Urtext“ nicht ganz einfach im Manuskript des Komponisten zu finden?
Ein Manuskript enthält nur in den seltensten Fällen einen „Urtext“. Die musikalische Notation ist zu sehr zeitgenössischen Konventionen unterworfen, die einem Manuskript zugrunde liegen, die aber für spätere Nutzer oft nur schwer zu erkennen sind. Außerdem liegt oft kein Manuskript des Komponisten vor, oder aber ein vorhandenes Exemplar ist fehlerhaft oder unklar.

Von den großen Werken der Musikgeschichte gibt es doch zahlreiche Ausgaben. Warum muss es immer wieder neue Editionen geben?
Eine Edition ist die Übersetzung eines Notentextes in eine zeitgenössische musikalische Sprache. Dinge, die zur Entstehungszeit der Komposition unausgesprochene Selbstverständlichkeiten waren, sind in Vergessenheit geraten und bedürfen der Interpretation. Im Laufe der Zeit geraten andere Aspekte in den Fokus, Editionen müssen diesem Wandel angepasst werden. Und schließlich gibt es auch laufend neue Erkenntnisse zu – und Interpretationen über – bereits bekanntes Material.

Was haben Musikerinnen und Musiker von Urtext-Ausgaben?
Genauso, wie Musikwissenschaftler von dem Wissen von Musikerinnen und Musikern profitieren, so profitieren auch diese vom Wissen der Musikwissenschaftler. In kritischen Editionen fließt dieses Wissen direkt in den Notentext ein. Musikerinnen und Musiker haben daher einen Notentext, der auf sorgfältigster Forschung beruht, mit einem Apparat, der mögliche inhaltliche Fragen zu beantworten sucht, und einer Sichtweise auf das Werk, die wirklich alle erhaltenen Quellen einbezieht. Das Ergebnis ist eine Aufführungspraxis, die größere Vielfalt und Reflektion ermöglicht.

Hendrik Schulze ist Associate Professor für Musikgeschichte an der University of North Texas. Zuvor lehrte er in Salzburg, Heidelberg und an der University of Illinois, Urbana-Champaign. Er ist Verfasser zweier Bücher: „Odysseus in Venedig“ (2004) und „Französischer Tanz und Tanzmusik in Europa zur Zeit Ludwigs XIV.“ (2012). Außerdem hat er zahlreiche Artikel über italienische Barockoper und Tanz zur Zeit Ludwigs XIV. veröffentlicht. Zusammen mit Studenten der University of North Texas hat er 2013 für den Bärenreiter-Verlag Claudio Monteverdis „Vespro della Beata Vergine“ herausgegeben, eine Ausgabe von „L‘incoronazione di Poppea“ ist für 2017 geplant. Zusammen mit seiner Ehefrau Sara Elisa Stangalino hat Schulze Francesco Cavallis Oper „Artemisia“ ediert und bereitet die Herausgabe von Cavallis „Xerse“ vor.

Thumbnail imageMichael Stegemann

„Urtext“, was bedeutet das für Sie?
Stegemann: Eine „Urtext“-Ausgabe bedeutet absolute Zuverlässigkeit – vor allem für die Musiker, die aus einer solchen Edition spielen, aber auch für Wissenschaft und Forschung. Zudem kann jeder, der die philologische Genese einer solchen Ausgabe nachvollziehen möchte, sie anhand der Kritischen Berichte verfolgen.

Ist der „Urtext“ nicht ganz einfach im Manuskript des Komponisten zu finden?
Das mag für zeitgenössische Musik vielleicht zutreffen, sicher aber nicht für Musik vor 1950. Abgesehen von (oft sehr aufschlussreichen) Skizzen und Frühfassungen, die vor der Niederschrift eines gültigen Werkmanuskripts entstanden sind, ist der Weg von diesem Ausgangspunkt zur Erstausgabe oft schon so komplex, dass nur ein gründlicher Abgleich aller verfügbaren Quellen Aufschluss über die Intentionen des Komponisten geben kann. Zudem waren Editionen früher sehr viel weniger akribisch und zuverlässig, als wir es heute gewöhnt sind.

Von den großen Werken der Musikgeschichte gibt es doch zahlreiche Ausgaben. Warum muss es immer wieder neue Editionen geben?
Frei nach Gustav Mahlers Bonmot, „Tradition“ sei oft nur „Schlamperei“, haben sich Verlage oft damit begnügt, ihre Ausgaben nachzudrucken – inklusive aller Fehler! Und selbst wenn moderne Neuausgaben erscheinen, waren und sind diese oft bloß unveränderte Reprints, da der Aufwand einer historisch-kritischen Edition viel zu groß wäre. Erst mit einer historisch-kritischen „Urtext“-Ausgabe – wie sie z. B. die Monumentalausgaben des Bärenreiter-Verlags bieten – ist eine zuverlässige Lesart gewährleistet, die dann allerdings wirklich keine weiteren Editionen des jeweiligen Werkes mehr braucht.

Was haben Musikerinnen und Musiker von Urtext-Ausgaben?
Die Praxis zeigt, dass Musikerinnen und Musiker sich meistens „blind“ auf den Notentext verlassen, aus dem sie ihre Aufführungen proben und durchführen. Wenn sie mit einer „Urtext“-Ausgabe arbeiten, können sie sicher sein, den vom Komponisten intendierten Text zu verwenden. Vor allem im Zeitalter der „Fake-News“ (und „Fake-Notes“ …) ist eine solche Quelle einfach unverzichtbar!

Michael Stegemann – geboren 1956 in Osnabrück. Studium (Komposition, Musikwissenschaft, Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte) in Münster und Paris, u. a. in der Meisterklasse von Olivier Messiaen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind der kanadische Pianist Glenn Gould, Mozart und Schubert, die russische und die französische Musik. Hörspiele, Sendereihen und Moderationen kreuz und quer durch die ARD. Deutscher Hörbuchpreis (2008) für The Glenn Gould Trilogy. An Büchern erschien zuletzt Franz Liszt – Genie im Abseits (Piper, München 2011). Seit 2002 auf dem Lehrstuhl für historische Musikwissenschaftler an der TU Dortmund. Seit 2016 ist Michael Stegemann Editionsleiter der 36-bändigen Ausgabe der Œuvres instrumentales complètes von Camille Saint-Saëns im Bärenreiter-Verlag).

Bärenreiter-Verlag
12.06.2017