Chormusik von Benjamin Britten Drucken

Künstler mit Verantwortungsbewusstsein

Thumbnail imageMit Chormusik kann man bei dem englischen Komponisten, Pianisten und Dirigenten Benjamin Britten (1913-1976) sowohl etliche unbeschwerte als auch ernste Momente in seinem Leben verbinden. Er arbeitete als Interpret nicht nur gerne mit Erwachsenen zusammen, sondern auch mit Jugendlichen. „Ich denke, dass der Profi sein Metier von Grund auf beherrschen muss“, betonte er. „aber das sollte ihn nicht daran hindern, für Amateure zu komponieren, die immer eine wichtige Kraft in der Herausbildung unserer Tradition waren.“ Bei Proben zeigte sich Britten auf humorvolle Weise flexibel: Als bei den Vorbereitungen zur Platteneinspielung von „Saint Nicolas“ der beste Bassist seine Brille vergessen hatte, so dass er bei einer wichtigen Stelle beim Weiterblättern nicht schnell genug den Notentext erfassen konnte, erfand Britten bei einer der dramatischsten Passagen ein zusätzliches Rallentando und kommentierte: „Das wird den Musikwissenschaftlern im nächsten Jahrhundert einigen Gesprächsstoff liefern.“

Er wollte indes auch seine Interpreten und Hörer zum Nachdenken anregen und akzeptierte einen Auftrag, 1965 zum zwanzigjährigen Gründungsjubiläum der Vereinten Nationen das Anthem „Voices for Today“ zu schreiben, das parallel in New York, Paris und London uraufgeführt wurde. In dem zehnminütigen Stück für großen Männer- und Frauenchor und einen kleineren Kinderchor verwendete der Pazifist verschiedene Texte von Autoren, die etwas Gehaltvolles zum Thema „Frieden“ äußerten, darunter Vergil, Sophokles, Melville, Tennyson, Jewtuschenko und Jesus. Musik für Chöre zu schreiben betrachtete Britten als Teil seines gesellschaftspolitischen Engagements. Um vom Komponieren leben zu können, verfasste er in erster Linie Auftragswerke. Sowohl bei Instrumentalsolisten als auch bei Institutionen war er gefragt. „Wir haben fast Schlange gestanden“, erzählte der Gitarrist Julian Bream, „ich habe ihn auch um etwas gebeten, musste aber fast zehn Jahre darauf warten.“ Aufgrund ihrer Entstehung sind manche Chorwerke stark an einen bestimmten Anlass gebunden, wie etwa die „Cantata academica“ op. 62 (1959), die mit dem Untertitel „Carmen Basiliense“ als Festkantate zur 500-Jahr-Feier der Universität Basel geschrieben wurde. Für Chöre entwarf Britten Stücke in allen Formaten – von kleineren A-cappella-Nummern bis hin zu Werken mit Sinfonieorchester.

Kompositionen für Jugendliche

Benjamin Britten hielt nichts vom Arbeiten im Elfenbeinturm. „Ich will für die Menschen schreiben“, äußerte er in einem Interview, denn für ihn war „der Künstler ein Teil der Gesellschaft“ und sollte sich seiner entsprechenden Verantwortung auch bewusst sein. Demzufolge gestaltete er Stücke für alle Schichten, Jugendliche und Erwachsene, Amateure und Profis. „Mir gefällt die Vorstellung, dass junge Menschen meine Werke nutzen“, bekannte er in einem BBC-Interview. Mit Anfang Zwanzig komponierte er 1935 für die Schule seines Bruders eine Sammlung von zwölf vom Klavier begleiteten Chorstücken für Jugendliche. Diese Vertonungen von Versen kaum bekannter Autoren gab er unter dem Titel „Friday Afternoons“ op. 7 heraus. Die charmanten und zuweilen skurrilen Nummern sind nicht allzu schwer aufzuführen.

Thumbnail imageMit den Jahren stiegen indes die Ansprüche. Für das eigene Musikfestival im heimatlichen Aldeburgh an der Nordseeküste in Suffolk schuf Britten die Kantate „Saint Nicolas“ für Tenorsolisten, Kinderchor, Chor und Orchester (1948) sowie einige „Miniaturopern“ mit jugendlicher Besetzung wie „Let’s Make an Opera: The Little Sweep“ op. 45 (Wir machen eine Oper: Der kleine Schornsteinfeger, 1949), „Noye’s Fludde“ op. 59 (Noahs Flut, 1858) und das Vaudeville „The Golden Vanity“ op. 78 (Die goldene Eitelkeit, 1966). Diese Werke sind durch eine denkbare szenische Gestaltung eine reizvolle Herausforderung. Nicht zuletzt hatten sich die Wiener Sängerknaben bei „The Golden Vanity“ bewusst an den Engländer gewandt, weil sie davon ausgingen, bei ihm werde ihnen nicht aufnötigt, Mädchenrollen zu übernehmen.

Mitarbeiter Brittens meinten, im Umgang mit Kindern scheine es, als ob er sich in seine eigene Jugend zurückversetzt sah. In seiner Musik habe Britten Kinder nie überfordert, ergänzte eine Sängerin, weil er sich auf ideale Weise in sie einfühlen konnte. Seine Kompositionen brachten etwas völlig Neuartiges in die Behandlung von Kinderstimmen ein, da sie nun wesentlich energischer eingesetzt wurden. „Benjamin Britten hat immer viele kräftige Knabenstimmen gewollt in seinen Stücken“, erinnert sich der englische Dirigent Marcus Creed. „Er hat absichtlich für einen Schulchor geschrieben in London, in Wandsworth, die richtig gebrüllt haben – überhaupt weit, weit weg von dem netten, puren Klang von Cambridge und Oxford.“ Auch in großen Konzertwerken ergänzen Knabenchöre die Ensembles, wie in der „Spring Symphony“ op. 44 (1949) oder dem „War Requiem“ op. 66 (1962).

Neben Gelegenheitsstücken wie der „Missa Brevis“ op. 63 für Knabenstimmen und Orgel (1959) und der „Welcome Ode“ op. 95 für einen „young people’s chorus“ und Orchester (1976) verdient das Stück „Children’s Crusade“ für neun Knabensolisten, Chor, Schlaginstrumente, Orgel und zwei Klaviere Beachtung. Das Schicksal von Kindern zu Zeiten des Krieges beschäftigte Britten sehr. Trotz der keineswegs zentralen Lage war sein Geburtsort Lowestoft an der Küste im Osten Englands während des Ersten Weltkriegs das Ziel von deutschen Zeppelinangriffen, weil sich dort ein Flottenstützpunkt befand. Die Familie musste mit dem Kleinkind häufig in Kellerräumen Zuflucht suchen. Später verfolgte Britten vor allem die Berichterstattung über Notlagen von Kindern voller Empathie. „Madrid zum x-ten Mal bei einem Luftangriff bombardiert“, notierte er am 5. November 1936 zu den Meldungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg in seinem Tagebuch. „Die Anzahl der getöteten Kinder unbekannt. Neulich wurden 70 mit einem Schlag umgebracht. Welchen Preis hat der Faschismus?“ Über dreißig Jahre später entstand der als „Lyrik, Reime und Rätsel von William Soutar für Tenor und Klavier“ bezeichnete Zyklus „Who are these children?“ op. 84 (Wer sind diese Kinder?, 1969) sowie die auf einer Vorlage von Brecht basierende „Ballade für Kinderstimmen und Orchester“ mit dem Titel „Children’s Crusade“ op. 82 (Kinderkreuzzug, 1969). Durch die seriellen Techniken und die Verwendung phonstarker Schlaginstrumente gehört dieses Stück zu den radikalsten Werken des Engländers. Es bietet Brittens pessimistischste, unverhüllteste Darstellung zerstörter Unschuld.

Thumbnail imageReligiöse Werke

Britten war hinsichtlich seiner religiösen Ausrichtung äußerst flexibel. Natürlich wurde er wie die meisten Engländer in einer anglikanischen Kirche getauft, doch seine Mutter begeisterte sich zunehmend für die Angebote der Christian-Science-Bewegung. Im Juni 1935 begleitete der Einundzwanzigjährige seine Mutter zu einer Versammlung in Kensington. „S[ehr] hübsches neues Gebäude – und einiges an dem Gottesdienst s[ehr] eindrucksvoll & schlicht“, notierte Britten, „aber ich fürchte, ich kann diese Überzeugungen nicht teilen.“ Dennoch besaß er einen Sinn für Transzendentes. Als er in einem Kloster in Spanien 1937 einen Chor Werke des Renaissancekomponisten Tomás Luis de Victoria singen hörte, notierte er im Tagebuch, es sei „schwer, an einem Ort wie diesem nicht an das Übersinnliche zu glauben“. Er gestand sogar einmal: „Es fehlt nicht viel, um mich zum römisch-katholischen Glauben zu bekehren.“ Letztlich war Britten die Botschaft wichtiger als die Beteiligung am Ritus. „Ben ging nicht so oft in die Kirche“, meinte sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears. „Ich bin nicht sicher, ob er sich selbst wirklich als Christen bezeichnen würde.“ Letztendlich hätte Britten sich schon als solchen gesehen, räumte aber ein, er sei „durch den Bischof von Woolwich und Bonhoeffer beeinflusst sowie die Leute, die er zitiert“. Die Musik stimulierte die religiöse Empfindsamkeit des Komponisten. Mitten im Zweiten Weltkrieg befasste er sich mit Oden und Weihnachtsliedern. Zu den Ergebnissen gehören unter anderem die stilistisch ähnlichen Werke „Hymn to St Cecilia“ op. 27 für gemischten Chor und „A Ceremony of Carols“ op. 28 für dreistimmigen Knabenchor (oder Frauenchor), Solostimmen und Harfe. Der etwa zwölfminütige Lobgesang ehrt mit Cäcilia von Rom die Schutzpatronin der Kirchenmusik, an deren Gedenktag, dem 22. November, Britten zur Welt gekommen war. In Großbritannien gibt es eine lange Tradition, ihr zu Ehren Musikstücke zu entwerfen. Dementsprechend ist Brittens Würdigung auf einen Text von W. H. Auden im Stil einer Ode gehalten. Die zur Weihnachtszeit vorgetragenen „Carols“ werden in Brittens etwa 25-minütigem Stück auf Mittelenglisch gesungen. Zur Besonderheit gehört – ähnlich wie in den drei späteren „Church Parabels“ –, dass die Singenden den Ein- und Auszug des Chors inszenieren, wobei sie mit „Hodie Christus natus est“ (Heute wurde Christus geboren) eine einstimmige Antiphon intonieren. Ebenso in die Kategorie der Weihnachtsmusik fällt das vierminütige Anthem „A Hymn to the Virgin“ (1929) und das knapp halbstündige „A Boy Was Born“ op. 3 für hohe Stimmen und Chor (1933; revidiert 1955), die Britten als Teenager schrieb.

Immer wieder kam er im Laufe seines Lebens auf religiöse Stoffe zurück, die er in den unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden umsetzte. Für Chöre vertonte Britten zumeist Texte in englischer und lateinischer Sprache, was sich zeigt bei Stücken wie „Two Psalms“ für Chor und Orchester (Psalm 130 und 150, 1931), für Chor (1931), „Christ’s Nativity“ für Sopran, Alt und Chor (1931), „Jubilate Deo“ für Chor und Orgel (Psalm 100, 1934), „Te Deum in C“ für hohe Solostimme, Chor, Trompete und Orgel (1934), „A.M.D.G. (Ad Majorem Dei Gloriam)“ für unbegleiteten Chor (1939), „Festival Te Deum“ op. 32 für Chor und Orgel (1944), „A Wedding anthem: Amo Ergo Sum“ op. 46 für Sopran, Tenor, Chor und Orgel (1949), „Five Flower Songs“ op. 47 für Chor a cappella (1950), „Hymn to St Peter“ für hohe Solostimme, Chor und Orgel (1955), „Missa Brevis“ für Knabenstimmen und Orgel (1959), „Jubilate Deo“ für Chor und Orgel (1961) und „A Hymn of St Columba“ für Chor und Orgel (1962). Unter den Werken mit geistlichen Themen fallen vor allem drei Stücke auf: „The Company of Heaven“ (1937) thematisiert Engel und ist mit Solisten, Sprecher, Chor, Pauken, Orgel und Streichorchester recht umfangreich besetzt, da es als Begleitmusik für einen Radiobeitrag der BBC entstand. Weniger aufwändig gestaltet ist „Rejoice in the Lamb“ op. 30 für vier Solisten, Chor und Orgel (1943). Das gut 16-minütige Werk zeigt einen sehr kreativen Umgang mit dem Text, denn Britten vertonte Verse, die der Dichter Christopher Smart im 18. Jahrhundert in einer Nervenheilanstalt schrieb. Er lobt den Schöpfer durch die unterschiedlichsten Dinge, darunter Tiere, Buchstaben des Alphabets und Musikinstrumente. Fesselnd ist die „Cantata misericordium“ op. 69 für Tenor, Bariton, Chor, Streichquartett, Streichorchester, Klavier, Harfe und Pauken (1963). Das zwanzigminütige konzertante Drama entstand zum 100-jährigen Bestehen des Roten Kreuzes und erzählt passenderweise das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die darin zum Ausdruck gebrachte Grundhaltung und der politische Einfluss, dem Britten in den 1930er-Jahren ausgesetzt war, wurde für seine Einstellungen relevant.

Thumbnail imagePolitisches Engagement

„Ich kann das Leben eines Menschen nicht zerstören, denn in jedem ist der Geist Gottes“, rechtfertigte Britten 1942 seine pazifistische Haltung vor einer Kommission. „Ich glaube nicht an die Göttlichkeit Christi, aber ich denke, dass seine Lehre vernünftig ist und dass man seinem Beispiel folgen sollte.“ Aspekte wie Gewalt und Mord thematisierte er immer wieder in seinem Œuvre, vor allem in seinen Hauptwerken, den Liederzyklen und Opern. Dies hinterließ jedoch auch Spuren im Chorschaffen. Sein zehnminütiges Miniaturdrama „The Ballad of Little Musgrave and Lady Barnard“ für Männerstimmen und Klavier (1943) auf einen Text von Christopher Smart erzählt von einer untreuen Frau und ihrem Geliebten, die in flagranti entdeckt und von dem gehörnten Ehemann umgebracht werden. Britten schrieb das Werk für einen Freund, der sich in deutscher Kriegsgefangenschaft befand. Die Widmung lautet: „Für Richard Wood und die Musiker von Oflag VIIb – Deutschland“. In diesem Lager in Eichstätt hatte Wood zwischen Februar und März 1943 ein Musikfestival organisiert, und Brittens Werk wurde bei sieben der Konzerte aufgeführt.

Da in seiner Jugend das Royal College of Music in London Britten bei seiner Ausbildung nicht alles vermittelte, was er für seinen Weg benötigte, nahm er Privatunterricht bei dem unkonventionellen Komponisten Frank Bridge. Sein Mentor lehrte ihn, so der Künstler, „durch die Instrumente, für die ich schrieb, zu denken und zu fühlen“. Darüber hinaus prägte Bridges „sanfter Pazifismus“ auch die Einstellung zu Gewalt und Krieg. Weitere wichtige Einflüsse auf seine politische und humanistische Haltung übten in den 1930er-Jahren die Schriftsteller Christopher Isherwood und Wystan Hugh Auden aus, mit denen er bei Dokumentarfilm- und Theaterprojekten zusammenarbeitete. Nach eigenem Bekunden debattierte er mit seinen Kumpanen nächtelang über Gerechtigkeit, Revolution und Ismen aller Art. „Nach dem Essen noch viel mehr Marx gelesen“, lautet ein typischer Tagebucheintrag jener Zeit. Dessen ungeachtet vergnügte sich der Couchkommunist Britten gelegentlich damit, Monopoly zu spielen: „Ein großartiges amerikanisches Spiel“, wie er im Tagebuch vermerkte, „das die verhängnisvolle Anziehungskraft & die hoffnungslose Einfältigkeit des Kapitalismus zeigt – aber abgesehen davon ein sehr gutes Spiel.“ In jenen Jahren entwarf er Werke für die Londoner Arbeiterchorvereinigung und produzierte Titel wie „Advance Democracy“ für Chor a cappella (1938). Musikalisch wesentlich anspruchsvoller ist die fünfzehnminütige „Ballad of Heroes“ op. 14 für Tenor bzw. Sopran, Chor und Orchester (1939). Den Text entwarfen W. H. Auden und Randall Swingler; Britten schrieb die Mixtur aus Trauermarsch und totentanzartigem Scherzo für das Propagandastück innerhalb weniger Tage. Die „Heldenballade“ entstand unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs und bietet mit ihrer naiven Heroisierung einen Gegensatz zu dem gut zwanzig Jahre später entstandenen „War Requiem“ op. 66.

Das „Kriegs-Requiem“ wurde unter der Leitung des Komponisten am 30. Mai 1962 in dem Neubau der Kathedrale von Coventry uraufgeführt, der sich neben dem als Kriegsruine erhaltenen Vorgängerbau aus dem 13. Jahrhundert befindet. Das abendfüllende Werk erfordert Solisten (Sopran, Tenor und Bariton), ein Kammerensemble, einen Knabenchor, einen gemischten Chor und ein umfangreich besetztes Orchester. Geplant war, es mit Solisten der am Zweiten Weltkrieg beteiligten Nationen zu besetzen, aber der Sopranistin wurde die Ausreise aus der UdSSR nicht gestattet, weil sie auf keinen Fall neben einem deutschen Bariton auf der Bühne stehen sollte. Wie von den meisten seiner Hauptwerke nahm Britten selbst eine Schallplatteneinspielung vor. Im Januar 1963 konnte er sein Wunschensemble in der Londoner Kingsway Hall – die als einer der besten Aufnahmeorte der Welt galt – um sich versammeln: Als Solisten hatte er einen Engländer (Peter Pears), einen Deutschen (Dietrich Fischer-Dieskau) und eine Russin (Galina Wischnewskaja) auserkoren. Das „War Requiem“ gehört zu den bedeutendsten Werken der Musikgeschichte: Britten verknüpfte den lateinischen Text der römisch-katholischen Totenmesse mit den Kriegsgedichten des im ersten Weltkrieg umgekommenen Lyrikers Wilfred Owen. Der Grundgedanke der literarischen Vorlage ist in einem Zitat Owens zusammengefasst, das Britten auf die Titelseite der Partitur schrieb: „Mein Thema ist der Krieg und der Kummer des Krieges. / Die Poesie ist im Kummer. / Alles, was ein Dichter tun kann, ist warnen.“

Thumbnail image„Was ich schreibe, wird wohl eines meiner wichtigsten Stücke werden“, teilte Britten dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau mit und erläuterte weiter: „Diese großartige Lyrik, voller Hass auf die Zerstörungswut, bildet eine Art Kommentar zum Requiem. Die Gedichte [...] erfordern einen Gesang von äußerster Schönheit, Intensität und Ernsthaftigkeit.“ Brittens eigene Interpretation ist von beeindruckender Ausdruckskraft. Um alle Beteiligten bei der schwierig umzusetzenden Partitur zu inspirieren, half ihm auch sein Humor. „Lasst es bloß nicht schön klingen“, ermahnte er einmal bei einer Probe den Knabenchor. „Es muss schrecklich wirken – das ist ja auch moderne Musik!“ Beim „War Requiem“ gestaltete Britten die diversen Text- und Emotionsebenen mit unterschiedlichen Klangmitteln. Die öffentlichen Trauerbekundungen des lateinischen Requiem-Textes werden von der Sopranistin, dem Chor und dem umfangreichen Orchester vorgetragen. Im Kontrast dazu stehen die Stimmen von Tenor und Bariton, die nur von einem Kammerensemble unterstützt werden. Sie übernehmen – einzeln oder im Zwiegesang – die imaginären Stimmen von Gefallenen der einst verfeindeten Lager, die in englischer Sprache ihre Erinnerungen und Reflexionen über das Grauen des organisierten Massenmords in den traditionellen Messetexte einstreuen. Die von ferne erklingenden Stimmen des Knabenchors und die Orgel künden wie aus übergeordneten Sphären von Erlösung und ewiger Ruhe. „Die erste Aufführung schuf so dichte Atmosphäre, dass ich zum Schluss innerlich völlig aufgelöst war und nicht wusste, wo mein Gesicht verstecken“, notierte Dietrich Fischer-Dieskau in seinen Erinnerungen. „Die gefallenen Freunde standen auf und die vergangenen Leiden.“ Der Bariton charakterisierte das „War Requiem“ als ein Werk, das „unter den erinnernswerten, von Mensch zu Mensch sprechenden Dokumenten begnadeten melodischen Einfalls“ bleibt.

Naturbilder

„Musik bedeutet für mich Klarstellung; ich versuche zu verfeinern, zu sensibilisieren“, äußerte Britten einmal zu seinen ästhetischen Grundsätzen. „Meine Technik besteht darin, alles Überflüssige zu beseitigen, um eine vollkommene Klarheit des Ausdrucks zu erreichen.“ Exemplarisch für diese Haltung stehen seine Kammeropern, wobei zu seinen größten Inspirationsquellen ein Musiker gehörte, der nie eine Oper schrieb: Gustav Mahler. In seiner Tradition steht indes die „Spring Symphony“ op. 44 für Sopran-, Alt- und Tenorsolisten, gemischten Chor, Knabenchor (zuweilen wird aber auch ein Kinderchor eingesetzt) und Orchester (1949). Die 45-minütige „Frühlingssinfonie“ gehört zu den wenigen Werken Brittens, die sich offenkundig mit der Natur befassen. Diese spielt zumeist in seinen Opern eine Rolle (wie das Meer in „Peter Grimes“ oder „Billy Budd“) oder in den Liederzyklen (wie Tiere in „Our Hunting Fathers“ op. 8). Britten wählte für die „Spring Symphony“ vornehmlich Verse aus dem 16. und 17. Jahrhundert – unter anderem von Edmund Spenser und John Milton –, aber auch von Auden. Der Komponist meinte, er wolle mit dem viersätzigen Werk „den Übergang vom Winter zum Frühling“ darstellen sowie „das damit verbundene Wiedererwachen der Erde und des Lebens“.

Die „Five Flower Songs“ op. 47 für Chor a cappella (1950) waren ein Geschenk für Freunde, die Hobbygärtner waren, und auch eine der letzten Arbeiten setzt sich im weitesten Sinne mit der Natur auseinander: In dem 16-minütigen „Sacred and Profane“ op. 91 für gemischten Chor (1975) vertonte Britten eine Sammlung von acht mittelalterlichen Gedichten für unbegleitete Stimmen. Dabei thematisierte er die vielfältigen Facetten der Natur, die Jahreszeiten, das Leben und die Sterblichkeit. In seiner individuellen Klangsprache verband Britten gekonnt erlesene Kunstfertigkeit mit Allgemeinverständlichkeit. „Man kann den rein intellektuellen Zugang zur Musik zu einer gewaltigen Sache aufplustern, aber ich denke, dass dies nicht der beste Weg ist“, bekannte er. „Es zählt nur, dass ein Komponist seine Musik so klingen lassen sollte, dass sie zwangsläufig und richtig erscheint; das System ist unwichtig.“

Britten beim VDKC

Weblinks

Buchtipps

  • Humphrey Carpenter, Benjamin Britten: A Biography, Faber & Faber, London 1992.
  • Norbert Abels, Benjamin Britten, Boosey & Hawkes, Berlin 2017.
  • Peter Evans, The Music of Benjamin Britten, Oxford University Press, Oxford 1996.
  • Mervyn Cooke (Hrsg.): The Cambridge Companion to Benjamin Britten, Cambridge University Press, Cambridge 1998.
  • Ulrich Tadday (Hrsg.), Benjamin Britten (Musikkonzepte Band 170, edition text + kritik), Richard Boorberg Verlag, München 2015.
  • Meinhard Saremba, Elgar, Britten & Co. – Eine Geschichte der britischen Musik in 12 Portraits, M&T Verlag, Zürich/St. Gallen 1994.
  • Meinhard Saremba, Britten und Schostakowitsch – eine Künstlerfreundschaft im Schatten der Politik, Osburg-Verlag, Hamburg 2022.
  • Paul Kildea (Hrsg.), Britten on Music, Oxford University Press, Oxford 2003.
  • Donald Mitchell / Philip Reed / Mervyn Cooke (Hrsg.), Letters from a Life – The Selected Letters and Diaries of Benjamin Britten, Band 1 (19231939), Band 2 (19391945), Band 3 (19461951), Band 4 (19521957), Band 5 (19581965), Band 6 (19661976), London/Woodbridge 19912012.

Meinhard Saremba
25.11.2022