Neujahrsgruß des VDKC-Präsidenten Ekkehard Klemm Drucken

Kunst als Gegengewicht zur Krise

Thumbnail imageDer Dichter Reiner Kunze ließ in einem seiner bekanntesten Kindergedichte ein blaues Pferd und ein blaues Klavier sich in einer grauen tristen Umgebung auf gelbes Papier denken:

„So diente die triste Umgebung
der Phantasie zur Belebung.“[1]

Seinen Freund Karel Franta ließ er dazu wundervolle Illustrationen malen. Die Worte des bald 90-Jährigen, der in DDR-Zeiten dem SED-Regime widerstand, kamen mir dieser Tage häufig in den Sinn, als ich nach einer Anregung suchte, mit der ich Sie in gewohnter Art zum neuen Jahr grüßen und Ihnen alles Gute wünschen könnte.

„Zeitenwende“ ist von einer Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) gerade zum Wort des Jahres 2022 gewählt worden. Wofür der Begriff steht und warum er gewählt wurde, muss hier nicht im Einzelnen erläutert werden. Fakt ist: Auch für die Kultur und speziell für uns und unsere Chöre ist eine Zeitenwende angebrochen.

Nach Corona und erst recht seit dem 24. Februar 2022 ist nichts mehr wie vorher. In einer von Krieg, Katastrophen, Energiekrise und Klimadiskussion geprägten tristen Umgebung müssen wir all unsere Ideen, unser Tun und unsere lange Zeit erfolgreichen Konzepte von Grund auf neu befragen. Und dabei können wir kaum ausklammern, dass es Künstlerinnen und Künstlern in den Krisenregionen viel schlechter geht und sie oft genug mit dem Leben einstehen für die Freiheit der Kunst. Mich persönlich haben die Hinrichtung eines Rappers im Iran, die Erschießung des Dirigenten Jurij Kerpatenko in Cherson und die Entdeckung des offensichtlich ebenfalls erschossenen Dichters Wolodymyr Wakulenko, der bei Isjum entführt wurde und zu den dort gefundenen Leichen gehört (Nr. 319) in einer Weise betroffen gemacht, dass ich mich täglich frage, ob unser inständig angestimmtes „Jauchzet frohlocket“ eigentlich angemessen ist!? So sehr ich mich über die von überall her eintreffenden Berichte der gelungenen Weihnachtskonzerte nach Corona freue und diese selbst auch aktiv unterstütze oder selbst leite – die Ereignisse hinterlassen eine Befangenheit, die es mir schwer macht, ungezwungen zu musizieren.

„Die Bombe
Wiegt nicht schwer

Gegen den Leichtsinn
Ein Dichter zu sein“

dichtet Utz Rachowski im Dezember 2018 in Erinnerung an den 1939 von einer Bombe getroffenen polnischen Autor Jósef Czechowicz.[2]

Sind wir leichtsinnig, fantasievoll genug, es mit der – tristen? – Umgebung unserer gegenwärtigen Welt aufzunehmen? In keinem Fall sollten wir uns von den Ereignissen entmutigen lassen. Einer der Jubilare des zu Ende gegangenen Jahres, Heinrich Schütz, hat es uns vorgemacht und im Angesicht des 30-jährigen Krieges singen und musizieren lassen: Im vom VDKC und Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. (MBM) als Veranstalterin des Projekts SCHÜTZ22 – „weil ich lebe“ initiierten Projekt „open_psalter“ können wir uns von der Kraft seiner Musik überzeugen. Viele unserer Chöre haben das Kompendium schon bereichert. Vielleicht gelingt es uns tatsächlich, die ganze Fülle dieses noch nie komplett zu hörenden Werkes zu dokumentieren.

Mehr denn je braucht die Welt das Gegengewicht der Kunst und diese zur Fantasie auch das Widerständige, Aufrichtige, Wahrhaftige. Die Sächsische Akademie der Künste hat gerade ein Motto für ihre aktuellen Veranstaltungen in Arbeit: „…aus der Krise heraus“. Ja, wir dürfen und müssen auch Freude, Dank und Jubel in unser Singen und Musizieren tragen, wenn wir die Krisen überwinden wollen. Vielleicht sollten wir mehr denn je Farben und Fantasie in die Welt tragen.

In diesem Sinne freue ich mich auf das bevorstehende 20. Deutsche Chorfestival des VDKC in Lübeck vom 23. bis zum 25. Juni 2023. Es möge uns neue Impulse geben und das graue Bild in ein farbiges verwandeln!

Ich wünsche Ihnen ein gesundes, erfolgreiches und inspiriertes Jahr 2023 und grüße Sie herzlich.

Ihr

Ekkehard Klemm
Präsident des Verbandes Deutscher KonzertChöre
02.01.2023


[1] Reiner Kunze, „Wohin der Schlaf sich schlafen legt“, Gedichte für Kinder, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1991

[2] Utz Rachowski, „Es fielen die schönen Bilder“, Gedichte, Verlag Poetenladen, Reihe Neue Lyrik – Band 22, Leipzig 2022