Wiederaufführung einer von Brahms bearbeiteten Bach-Kantate durch die Internationale Bachakademie Stuttgart im September 2013 Drucken

Bearbeitung der Bach-Kantate 21 von Johannes Brahms in Wien entdeckt

Thumbnail imageVor wenigen Wochen entdeckte der Brahms-Forscher Robert Pascall (Nottingham) im Archiv der Wiener Singakademie eine bis dahin völlig unbekannte, durchgreifende Bearbeitung der Bach-Kantate 21 („Ich hatte viel Bekümmernis“) aus der Feder von Johannes Brahms.

Im Rahmen des MUSIKFESTUTTGART 2013 wird dieses Werk am 2. September von den Ensembles der Internationalen Bachakademie Stuttgart unter Leitung von Hans-Christoph Rademann erstmals seit Brahms‘ Tod aufgeführt.

Bereits bekannt waren der Forschung die Brahms-Bearbeitungen der Bach-Kantaten 4, 34 und 50, die im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien überliefert sind; sie sind seit Brahms‘ Aufführung in Wien vor rund 140 Jahren nie mehr erklungen und bislang unveröffentlicht. Während des Musikfests werden diese Werke in einmaligen Studienaufführungen am 6. September erstmals nach dem noch unveröffentlichten Notentext der neuen Johannes-Brahms-Gesamtausgabe zu hören sein, interpretiert vom Dresdner Kammerchor und Anima Eterna unter Leitung von Jos van Immerseel.

Projektbeschreibung:
Prof. Dr. Otto Biba, Direktor des Archivs, der Bibliothek und der Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zu dem Projekt:

„Johannes Brahms hat mehrere Werke Johann Sebastian Bachs für von ihm verantwortete Aufführungen eingerichtet. Bei drei Kantaten (BWV 4, 34, 50) hat er viel mehr gemacht: Er hat ihnen auf sehr eigenständige Weise eine klangliche Neufassung gegeben. Brahms’ handschriftliche Unterlagen dazu befinden sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Sie werden zurzeit von Robert Pascall (Universität Nottingham) und der Brahms-Forschungsstelle an der Universität Kiel für die erstmalige Edition ausgewertet. Dieser Erstdruck wird in der von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mitherausgegebenen Johannes Brahms-Gesamtausgabe im G. Henle-Verlag erscheinen

Diese internationale Kooperation kennzeichnet die Schwierigkeit der Arbeit, aber auch ihre Bedeutung. Denn nach langen Jahren, in denen Bachs OEuvre in Originalfassungen bei Interpreten wie Publikum gefragt war, gibt es heute ein neues Interesse an der Bach-Rezeption und an der Auseinandersetzung späterer Generationen mit Bachs Werk.

Signifikant dafür sind Brahms’ Bearbeitungen, die diese Kantaten dem Instrumentarium der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch den Klang- und Hörgewohnheiten dieser Epoche zugänglich machen. Es war nur ganz selten in der Musikgeschichte der Fall, dass ein ganz Großer – wie Brahms – auf solche Weise dem Schaffen eines anderen ganz Großen – wie Bach – seinen Stempel aufgedrückt hat, das freilich auf höchst respektvolle Weise.

Im Zuge dieser Editionsarbeiten wurde von Robert Pascall im alten Musikalienbestand der Wiener Singakademie auch eine bisher unbekannte Bearbeitung Brahms’ von drei Sätzen aus Bachs Kantate BWV 21 gefunden. Auch diese drei Sätze werden in dem entsprechenden Band der Johannes Brahms-Gesamtausgabe erscheinen.“

… „von außerordentlicher Schönheit“…
Prof Dr. Robert Pascall (Nottingham) über die Bearbeitungen der Bach-Kantaten von Johannes Brahms:

„Wir haben seit langem Mendelssohns Matthäus-Passion, Schumanns Johannes-Passion – und jetzt haben wir außerdem Bachs Kantatenwerk von Brahms. Angeregt durch die in den 1850er Jahren veröffentlichten ersten Bände der Bach-Gesamtausgabe nahm Brahms während seiner Detmolder Zeit die Gelegenheit wahr, eine Bach-Kantate zur Aufführung zu bringen, und zwar „Christ lag in Todesbanden“, BWV 4, die er fünfmal in den privaten Schlosskonzerten erfolgreich leitete.

Vier Jahre später war er stolz und froh über seine Berufung als Dirigent der Wiener Singakademie, und im ersten von ihm geleiteten Konzert führte er die Kantate Ich hatte viel Bekümmernis BWV 21 auf. Damit sind wir schon beim ersten Konzert des Stuttgarter Bach-Brahms-Pakets im kommenden September, denn Brahms hatte für diese Aufführung etwas Spezielles geschaffen.

Grundsätzlich kann man dazu Folgendes feststellen: Bei seinen Konzert-Einrichtungen von Bachs Kantaten war er bemüht,
1) die Vokalpartien entsprechend den „modernen“ Klang-Idealen seiner Zeit durch Orchesterinstrumente zu verstärken bzw. zu unterstützen; so verzichtete er beispielsweise bei Christ lag in Todesbanden auf Bachs Partien für Zink und Posaunen und setzte sie statt dessen für Oboe, Klarinette, Horn, Fagott;
2) die in der ursprünglichen Fassungen hochangelegten und zu seiner Zeit nicht mehr spielbaren Trompeten-Partien zu ersetzen;
3) die Continuo-Aussetzung zu realisieren;
4) das Ganze mit Aufführungs-Nuancen seiner eigenen Zeit auszustatten.

Bei der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21 verzichtete er für die Nummern 3 und 8, also die Sopran-Arie und das Duett für Sopran und Bass (einen Dialog zwischen einem Sünder und seinem Erlöser) auf jegliche Orgelbegleitung und komponierte statt dessen jeweils einen völlig ausgearbeiteten Streichersatz: in der Sopran-Arie für Streichquartett, im Duett für Streichquintett mit 2 Bratschen. Diese Realisierungen des ursprünglichen bezifferten Basses sind durchaus schöpferisch konzipiert, so haben sie z.B. eine ganz eigene Motivik, entwickelt durch Imitation, Umkehrung, Antiphonie, Stimmtausch – und dies geschieht, ohne dass die betreffenden Singstimmen in den Schatten gestellt würden. Kurzum, Brahms hat hier sein kompositorisches Können ernsthaft eingesetzt, besonders was seine neuesten Erfahrungen im Bereich der Kammermusik für Streicher betrifft, z.B. beim 1. Streichsextett und beim Klavierquintett in der ursprünglichen Fassung für Streichquintett. Diese Realisierungen sind von außerordentlicher Schönheit, und wir sind stolz darauf, die erste Aufführung in modernen Zeiten anbieten zu können.

In der letzten Nummer der gleichen Kantate waren Musiker des späteren 19. Jahrhunderts bei den hohen Trompeten-Partien total überfordert, zumal man in Wien damals auf tiefen F-Trompeten spielte. Brahms ließ Bachs 1. Trompete, manchmal auch die 2. Trompete durch die Klarinetten vertreten, behielt zugleich jedoch alle drei Trompeten im Orchestersatz, wo sie von ihm nun neue tiefere Partien bekamen; dadurch erweiterte und bereicherte er den ursprünglichen Blechbläserchor auf vier bzw. fünf Partien. Die Continuo-Aussetzung dieser Nummer ist klanglich besonders dicht konzipiert durch Akkorden mit bis zu 7 Noten, wohl weil es im Großen Redoutensaal der Wiener Hofburg, wo die Kantaten-Aufführung stattfand, keine Orgel gab und man für Konzerte jedes Mal ein relativ kleines Orgelpositiv herbeischaffen musste.

1872 bis 1875 war Brahms Konzert-Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Während dieser Zeit brachte er vier Kantaten Bachs zur Aufführung: „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4), „Liebster Gott, wann werd' ich sterben?“ (BWV 8), die beide in früheren Jahren schon in Detmold bzw. in der Wiener Singakadamie unter seiner Leitung aufgeführt worden waren; außerdem richtete zwei weitere Kantaten neu ein: „O ewiges Feuer“ (BWV 34) und „Nun ist das Heil und die Kraft“ (BWV 50). 1874 schrieb Brahms dem Musikwissenschaftler Philipp Spitta: "Mir waren diese Cantaten [...] die frappantesten und genußvollsten Abenteuer im Conzertleben." Wir bringen im zweiten Konzert des großen Stuttgarter Bach-Brahms-Paketes 2013 die Kantaten „Christ lag in Todesbanden“, „O ewiges Feuer“ und „Nun ist das Heil und die Kraft“. Für alle drei ist die Quellenüberlieferung vollständig und klar, und somit ist es uns möglich, Brahms' Konzert-Einrichtungen relativ genau wiedergeben zu können.“

Termine:
02.09.2013, 13 Uhr | Stuttgart, Stiftskirche | Kantatenkonzert „Sichten auf Bach III“: J. S. Bach: Kantate „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben“ BWV 102; J. S. Bach, J. Brahms: Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21 | Gächinger Kantorei und Bach-Collegium Stuttgart, Leitung: Hans-Christoph Rademann

06.09.2013, 13 Uhr | Stuttgart, Stiftskirche | Kantatenkonzert: J. S. Bach, J. Brahms: Kantaten „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4, „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“ BWV 34, „Nun ist das Heil und die Kraft“ BWV 50 | Dresdner Kammerchor, Anima Eterna Brügge, Leitung: Jos van Immerseel

Informationen: www.musikfest.de

Internationale Bachakademie Stuttgart, VDKC
06.03.2013