Foto: Partiturseite der Johannes-Passion (Jörg-Peter Weigle)
Foto: Partiturseite der Johannes-Passion (Jörg-Peter Weigle)

Reflexionen am Beispiel der Johannes-Passion

Wie sollen wir mit Bachs Passionen im Lichte zunehmender antisemitischer Vorwürfe umgehen? Diese Frage stellen sich derzeit viele Ausführende, Dirigentinnen und Dirigenten sowie Programmgestaltende.

Grundlage für meine Beurteilung ist der Blick der Urteilenden auf die Bibel. Was bedeutet sie uns heute noch? Für die einen ist sie ein Geschichtsbuch, für die anderen ein Geschichtenbuch und für die dritten schließlich Grundlage christlicher Religion.

In der historischen Betrachtung (Geschichtsbuch) sind die Dinge, wie sie stattgefunden haben. Daraus kann kein Vorwurf an uns Heutige abgeleitet werden. In der Imagination (Geschichtenbuch) bleibt die Geschichte fiktiv. Auch hier kann keine Schuld für uns entstehen. Als Religionsgesetz ist die Bibel (Evangelien) die christliche Heilsgeschichte, in der die Juden Teil dieses Prozesses sind! Will man ihnen daraus einen Vorwurf machen?

Seit geraumer Zeit drängen sich Stimmen in den Vordergrund, die den Passionen Bachs einen antisemitischen Charakter unterstellen wollen – neuerdings nicht nur des Textes wegen. Wie kann es dazu kommen und ist da vielleicht etwas dran? Ich gestehe, dass mich diese Diskussion über all die Jahre unberührt gelassen hat. Ich empfand sie als falsch, unsinnig und überflüssig. Falsch und unsinnig finde ich sie immer noch, als überflüssig jedoch kann man sie nicht mehr bezeichnen. Längst ist eine Diskussion im Gange, die nicht nur im politisch kulturellen Umfeld Fahrt aufgenommen hat, sondern zunehmend sogar in der Kirche dahingehend erörtert wird, ob man denn das Johannes- und Matthäusevangelium am Karfreitag den „Gemeinden noch zumuten“ könne. Als Interpret, der die Passionen vielfach gesungen, studiert, dirigiert und unterrichtet hat, wage ich (m)ein Urteil zu dieser Problematik.

Für mich ist ganz klar: Nein, die Passionen sind nicht antisemitisch. Die dahingehenden Vorwürfe sind entweder absichtsvoll oder aber zumindest undifferenziert, wenn nicht gar aus Unwissen erhoben. Bei den Sujets handelt es sich um historische Texte auf Grundlage der Evangelien. Sie erzählen vom Verrat, der Gefangennahme, der Kreuzigung, dem Tod und der Auferstehung Jesu.

Auf welche Begebenheiten wird hier Bezug genommen?

Die Geschichte spielt vor fast 2.000 Jahren in einem Umfeld, in dem römische Machthaber einen gesellschaftlichen und religiösen Konflikt in ihrem Territorium ausmachen und diesen befrieden müssen. Vor dem Pessachfest hat Jesus im Tempel die Geldwechsler angegriffen, deren Tische umgeschmissen und einen Geldtausch, der für ein geordnetes Leben in Jerusalem und für die Fremden unabdingbar war, verhindert. Da ist ein junger Mann, der die öffentliche Ordnung stört und droht, den gewohnten Ablauf des Festes im Tempel und auf den Straßen zu unterwandern. Er sabotiert die Zahlung der Tempelsteuer. Schlimmer noch, Jesus rückt sich mit der Behauptung, dass er Gottes Sohn sei, in Gottes Nähe, was eindeutig Blasphemie ist. Er gibt sich als Gottes Sohn aus, stellt sich gegen die geistliche Ordnung und spaltet so das Volk. Deshalb soll er nun zur Rechenschaft gezogen werden. Einige „hingen ihm an“, andere – und dazu gehören die Hohepriester und die römische Staatsmacht – tun das, was man mit Leuten tut, die gegen herrschende Gesetze verstoßen: Man stellt sie vor Gericht und bestraft sie. Blasphemie wird mit dem Tode bestraft. Jesus weiß das und begibt sich doch in Gefahr. Es ist nicht unlogisch, zu argumentieren, dass Jesus der Grund für diese Situation ist. Er selbst ist ‚schuld‘ an dem öffentlichen Aufruhr. Die Situation stellt sich wie ein Machtspiel dar, wie es zu allen Zeiten in allen gesellschaftlichen Umfeldern stattgefunden hat und stattfindet. Das Volk wird gespalten, und es lässt sich spalten. Das ist, was uns Sorge bereiten muss! Trotzdem wird aus der unübersichtlichen Gemengelage jene Heilsgeschichte, an der die Juden als „Volk“, wie es auch übersetzt wird, beteiligt sind. Pilatus hat größtes Interesse daran, den Aufruhr klein zu halten. Seine Karriere als römischer Stadthalter soll durch nichts gefährdet werden, das Interesse der Hohepriester ist es, die geistliche Ordnung nicht angreifen zu lassen.

Entscheidend für eine heutige Interpretation sind dabei die Fragen, wie die Figuren dieser Geschichte zueinander im Verhältnis stehen, wer welche Funktion und Haltung hat, wie Bach sie und das Geschehen musikalisch beschreibt und was uns diese Geschichte heute noch sagt. Nach meiner Überzeugung sieht Bach das Evangelium als Heilsgeschichte und weist jedem Charakter seinen musikalischen Platz zu. Mit der ihm eigenen Genialität fügt er zur Geschichte eine zweite lutherische, quasi zeitlose Ebene hinzu, nämlich die Gemeinde. Der Chor singt Choräle bzw. Texte, die sich in der Agende des Karfreitags befinden oder in der Passionszeit üblicherweise gesungen werden. Choräle mit Weihnachts- und Passionsbezug, etwa „Wie soll ich Dich empfangen“ oder „Wenn ich einmal soll scheiden“ werden nach der Melodie des Passionsliedes gesungen. Damit gelingt es Bach, den theologischen Bogen von der Geburt zum Kreuzestod zu schlagen und weitere Betrachtungsweisen einzubringen. Bachs Passionen verurteilen nicht, sie sind Zeugnisse dialektischer Betrachtung und christlicher Vergebung.

Foto: Choral aus Bachs Johannes-Passion (Ralf Schöne)
Foto: Partiturseite der Johannes-Passion (Jörg-Peter Weigle)

Uns allen ist bewusst, wie brutal das Volk sich gegen Jesus wendet. Er erträgt sein Schicksal nicht aus eigenem Antrieb oder Selbstherrlichkeit, nicht aus Geltungsbewusstsein, sondern einzig im Auftrag des „Vaters“. Die Gemeinde sieht und weiß das alles, und sie kommentiert im christlichen Sinne: „Ich bin‘s, ich sollte büßen…“ / „Ich, ich und meine Sünden…“. Der Chor (die Gemeinschaft) hat die Aufgabe, das Geschehen „zu aller Zeit“ christlich zu verorten. Schon allein deshalb kann hier Antisemitismus keinen Platz haben. Vielmehr gäbe es die Heilsgeschichte ohne Jesu Kreuzigung gar nicht.

Woher kommt also der latente Verdacht des Antisemitismus?

Ist es die Tatsache, dass die Evangelien das Volk häufig mit „die Juden“ beschreiben? Ist es die Verhöhnung „…ist er der König Israels“, ist es „Jesus von Nazareth, der Judenkönig“, oder ist es der immerwährende „gewöhnliche, vorurteilsbeladene“ Antisemitismus, wie ihn unsere Welt seit 2.000 Jahren kennt? Selbst wenn die obigen Zitate Schmähungen gegen eine Religion wären, so bleibt der Ausgangspunkt dennoch eben jene Geschichte und kann mit heutigen Generationen von Jüdinnen und Juden im Sinne von Schuldzuweisungen nicht verknüpft werden.

Was macht es offenbar so schwer, ein inzwischen welthistorisches Zeugnis musikalischer Kunst einfach als solches zu akzeptieren? Die fatale Vermengung von Historie mit derzeitiger Politik, Kunst und gegenwärtigen Befindlichkeiten könnte einer der Gründe sein. Das, was Bach so säuberlich durch die Handlungs- und Betrachtungsebene trennt, wird heute zu oft unzulässig vermengt. Die heutige jüdische Gemeinschaft hat keine Schuld (im Sinne von Mord) an Jesus. Wir alle müssen uns bewusst sein oder werden, dass Gemeinschaften fehlbar sein können, und wir müssen uns sehr wohl dennoch mit den Fehlern der Altvorderen auseinandersetzen. Wir müssen mit unserer Historie leben. Es ist nicht „meine Schuld“, dass Juden imDritten Reich“ systematisch ausgerottet worden sind, aber ich schäme mich dafür, dass es unter deutscher Verantwortung geschah, und ich werde alles dafür tun, dass so etwas nie wieder passiert.

Ein Weiteres kommt bei der Vermengung von Historie und Realität noch dazu, und das ist komplizierter: „Israel ist ein jüdischer Staat, was bedeutet, dass die Mehrheit seiner Bevölkerung jüdisch ist und das Land sich als Nationalstaat des jüdischen Volkes versteht“, lässt sich bei Wikipedia lesen. Das wiederum bedeutet auch, dass der Staat Israel alle Jüdinnen und Juden, somit auch die jüdische Religion, auf der Welt vertritt, ungeachtet ihres Wohnortes. Zumindest scheint das die Lesart der gegenwärtigen Regierung in Israel zu sein. Hierin könnte eines der großen Missverständnisse unserer Gegenwart liegen. Der Alleinvertretungsanspruch des Staates Israel gegenüber allen Jüdinnen und Juden macht ihn empfindlich für Angriffe auch auf alles religiöse jüdische Leben. Für uns und unser Demokratieverständnis ist das nicht leicht zu verstehen. Wir kennen die Trennung von Staat und Kirche und bestehen auf Trennung von Kultur und Staat. Der Staat Israel hingegen ist der Vertreter der jüdischen Religion und auch des Staates mit seinem politischen Staatsgebiet.

Vermutlich müssen wir in der Diskussion genauer determinieren, dass wir bei der Beurteilung der Bach’schen Passionen entweder von Kunstwerken oder aber Zeugnissen der christlichen Religion ausgehen, von der die Christen als Heilsgeschichte der Welt überzeugt sind und bei der die Juden vor fast 2.000 Jahren ein Teil dieses Prozesses waren.

Wie lässt sich also heute umgehen mit den Passionen?

Für mich gibt es in der Johannes-Passion zwei herausragende Bekenntnismomente. Da ist zum einen der zentrale Choral „Durch dein Gefängnis…“ und zum anderen die zweite Strophe von „Wer hat dich so geschlagen…“. In meiner letzten Interpretation habe ich diese Strophe „Ich, ich und meine Sünden“ a cappella singen lassen, um die Hörerinnen und Hörer unabgelenkt auf den Text hinzuweisen. Es war für mich eine Verfehlung in einem ‚minderschweren Fall‘. Die Instrumente wegzulassen, ist nicht lege artis, aber in Anbetracht der zunehmend antijüdischen Schuldzuweisungen, sah ich mich veranlasst, einen besonderen Moment der Aufklärung zu schaffen. Selbstverständlich haben wir (Interpretinnen und Interpreten) nicht das Recht, Instrumentationen oder gar Texte nach unserem Gusto zu verändern. Das Argument, Bach habe so etwas auch getan, lässt völlig außen vor, dass Bach der Komponist ist, dem selbstverständlich jedes Recht dafür zusteht, uns Interpretinnen und Interpreten aber nicht.

Das gilt auch für Versuche, das Stück anderweitig zu interpretieren. Drei sehr unterschiedliche Experimente aus unserem Jahrhundert haben mein besonderes Interesse erregt, die „queerPassion“, Neudichtung auf die Musik der Johannes-Passion Bachs von Thomas Höft (2022), die „Matthäus-Passion“ von Sven-David Sandström (2014) und die „Nach Markus. Passion“ von Steffen Schleiermacher, Text von Christian Lehnert (2015). Ersteres ist ein neuer Text auf die Bach’sche Musik der Johannes-Passion, der zweite Versuch ist der, eine neue Musik auf den von Bach verwendeten Text zu komponieren und schließlich eine zeitgenössische Ergänzung verschollener Bachteile bei dem dritten Beispiel.

Höfts Argumentation, Bachs Musik den Kern zu nehmen und sie mit einem anderen zu füllen, wirkt auf mich sehr befremdlich: „Deshalb habe ich die Texte überschrieben. Nicht um die biblische Passion zu schmälern, die kommt gar nicht vor, sondern um eine ganz andere zu erzählen. Dass dadurch die furchtbaren antisemitischen Passagen, die schon das Johannes-Evangelium enthält und denen Bach mit seinem kompositorischen Talent leider sehr beredt Ausdruck verleiht, ebenfalls überschrieben werden, ist ein zusätzlicher Gewinn“ (Programm 19.04.2022).

Bachs Musik einen anderen Text zu geben, würde allein dem Komponisten Bach obliegen, nicht aber den Nachschaffenden. Das Werk derart zu entfremden, ist für mich keinesfalls akzeptabel! Hätte er (Höft) doch eine queere Passion neu geschrieben bzw. vertonen lassen!

Was ist aber mit dem „Bach’schen“ Text zur Matthäus-Passion und der neuen Musik von Sandström? Der Komponist hatte sich bereits mit Charles Jennens’ Text von Händels „Messiah“ auseinandergesetzt und ihn neu vertont. Auf Anhieb kommt uns der ‚alte Text‘ im neuen Gewand merkwürdig vor. Aber Sandströms Personalstil hat etwas, das Respekt für die Passion, die christliche Glaubenslehre und die Kunst vermittelt. Und es wird keine willkürliche Geschichtsschreibung betrieben, sondern eine zeitgenössische ‚Antwort‘ auf den historischen Text gegeben. Sie zieht die Hörenden je länger, desto mehr in ihren Bann und lädt zum Dialog zwischen dem Gegenwärtigen und Vergangenen ein. Die dialektische Betrachtung von Handlung und gemeindlichem Kommentar bleibt erhalten.

Besonders legitim und im wörtlichen Sinne spannend erscheint mir Schleiermachers zeitgenössische Ergänzung verschollener Bachteile als Neukomposition unter Verwendung von Texten von Christian Lehnert. Hier wird ein Dialog zwischen den Stilistiken und Epochen gesucht und geführt. Ob das noch eine Passion herkömmlichen Formates oder schon eine andere musikalische Gattung ist, werden Hörende, Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler beurteilen. Vielleicht ist „Nach Markus. Passion“ ja auch eine ‚nach-folgende‘ Gattung der Passionskompositionen.

Der Interpret oder die Interpretin fragt bei der Programmauswahl für Aufführungen, welchen Bezug ältere Werke zu uns haben und ob sie für uns noch relevant sind. Er oder sie fragt: „Interessiert mich der alte Text noch heute, entweder in seinem damaligen oder heutigen Kontext?“ Je nach Beantwortung dieser Fragen wird entschieden, ob die Werke gegenwärtig noch aufgeführt werden sollen, oder nicht. Missverständnisse sind vielleicht nicht gänzlich auszuschließen, wir sollten uns aber unbedingt um den richtigen historischen Kontext bemühen und ihn säuberlich von zeitgeistigen Strömungen trennen. Dann können wir guten Gewissens die Passionen aufführen und sie auch am Karfreitag lesen lassen.

Jörg-Peter Weigle

10.11.2025

Hintergründe: Bei Luis Pazos wird der finanzielle Zusammenhang der Geldwechsler im Tempel detailliert beschrieben: https://nurbaresistwahres.de/geldgeschichte-jesus-der-schekel-rebell/

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