Neue Einstudierungshilfe auf www.kopist.de
Mit dem War Requiem hat Wolfgang Hochstrates Internetpräsenz „Kopist“ seit kurzem einen ganz besonderen Neuzugang zu verzeichnen. Die Website bietet allen Sängerinnen und Sängern die Möglichkeit, in der Probe Erlerntes zu festigen, Rückstände aufzuholen oder sich in neue Stimmlagen einzuarbeiten, indem sie Klassiker der Chorliteratur in drei Formaten zur Verfügung stellt: MP3, Video MP4 und als YouTube-Video.
VDKC-Generalsekretär Ralf Schöne sprach mit dem pensionierten Pfarrer und Chorleiter Hochstrate über die enorme Herausforderung, dieses komplizierte und vielschichtige Werk entsprechend aufzubereiten.
Ralf Schöne (RS): Herr Hochstrate, lassen Sie mich Ihnen zu dieser Arbeit gratulieren und meine Hochachtung aussprechen. Offen gestanden habe ich mir im Vorfeld kaum vorstellen können, dass es Ihnen gelingen würde, dieses Werk so aufzubereiten, dass Übende damit arbeiten können.
Wolfgang Hochstrate (WH): Herzlichen Dank dafür, aber im Gegenteil bin ich Ihnen, Herr Schöne, dankbar für die Anregung, mich mit diesem ungewöhnlichen Werk zu befassen. Es ist mir in der Erarbeitung zur wirklichen Herzensangelegenheit geworden. Gerade in der heutigen Zeit sollten alle Chöre dieses Werk singen! Und ich bin froh, wenn meine Übedateien dazu beitragen können, dem einen oder anderen Chor auf die Sprünge zu helfen. Denn natürlich ist es eine kolossale Herausforderung.
RS: Die ist es in der Tat. Vielleicht erläutern Sie noch einmal, wie Sängerinnen und Sänger dieses Angebot nutzen können.
WH: Ich muss vorausschicken, dass man seine Stimme tatsächlich einpauken muss, denn an vielen Stellen erschließt sich nicht, wo man seinen Einsatzton herbekommen soll. Auch wenn verschiedene Stimmen im Abstand von Sekunden singen, kann man nur hoffen, dass genügend Sänger ihre Töne so verinnerlicht haben, dass auch die unsicheren Sänger mit „musikalischer Schwarm-Intelligenz“ sich an die Sicheren anhängen können. Wenn die Aufführung erst geschafft ist, wird es sich als großes musikalisches Erlebnis herausstellen, für jeden der mitgewirkt hat, und für jeden, der das Ganze gehört hat.
Nun zu den Übedateien: Wenn man nach meinen YouTube-Einspielungen übt, kann man die Time-Marker benutzen, um zur nächsten Chorstelle zu springen. Die herunterladbaren MP4-Videos sind leichter zu handhaben, da müsste ich die Einsatz-Zeiten vielleicht noch auf der Kopist-Seite angeben. Meine Einspielungen sind keine Interpretationen: Bei langsamen Stücken wie dem 5. Satz, dem Agnus Dei, laufen die unisono-Stellen schneller ab, bei schnellen Stellen wieder langsamer, alles nur um die Töne angemessen zu erfassen.
RS: Ich kann mir vorstellen, dass die verwendete Harmonik bei Britten Besonderheiten in der Notation erfordert?
WH: Beim War Requiem sind die Akzidentien bei den einzelnen Noten eine Herausforderung. Noten, die abwärts gehen, schreibt Britten meist mit b, Noten die aufwärts gehen, mit Kreuz, unabhängig von der Tonart, die er am Anfang des Systems angegeben hat. In B-Dur ein „his“ oder „heses“ zu setzen, ist für ein Notendruckprogramm wie Capella 9 wahnsinnig schwierig und nur mit Tasten-Tricks zu bewerkstelligen, ich wollte aber auch nicht heses durch ein a ersetzen, damit der einzelne Sänger nicht sagt: „Hier im Chorheft steht das aber anders...“ Oft schreibt Britten auch Erinnerungs-Auflösungszeichen, deren Sinn sich nicht erschließt, z. B. vor einem e, wobei nirgendwo im Umfeld ein es zu sehen war. Wahrscheinlich meinte er: „Diesen Ton schön hoch nehmen...“ Mit diesen Problemen hängt vielleicht zusammen, dass es noch nie eine gedruckte Partitur, sondern nur eine handgeschriebene, gegeben hat.
Ein weiteres Problem bei diesem Schriftbild ist, dass es riesige Legato-Bögen über ausführlichen Texte gibt, die nur die Betrachtung durch die Sängerinnen behindern. Ich habe sämtliche Bögen auf das Nötigste reduziert, damit man weiß, wo eine Melismatik anfängt und aufhört. Ansonsten reicht es, dass die Dirigentin sagt: „Alles schön Legato singen...“
RS: Gut – das ist verhältnismäßig leicht zu realisieren (lacht). Aber wie führt die Chorleitung die verschiedenen Klangkörper parallel? Wie kann man sich da orientieren?
WH: In der Tat, drei Klangkörper, von denen jeder sein eigenes Tempo verfolgen soll! Benjamin Britten hat keine Taktzahlen angegeben. Es gibt das große Orchester mit achtstimmigem Chor, Solo-Sopranistin und dem lateinischen Text einer Totenmesse (Requiem), dann das Kammerorchester mit Solo-Tenor und Solo-Bariton, die die englischen Texte von Winfred Owen singen, und irgendwo im Raum, meist an der Orgel, noch den zweistimmigen Knabenchor auch mit lateinischem Requiem-Text. Britten hat da zwei Dirigenten vorgesehen, wobei der Knabenchor vermutlich noch einen dritten eigenen Einsatzgeber braucht. Aber wie ich schon sagte, wenn nun die verschiedenen Einheiten in verschiedenen Tempi und Taktmaßen singen sollen (siehe im Offertorium bei Nr. 77 die Anweisung „no exact connection with boys' tempo“), dann lassen die Überlappungen keine einheitlichen Taktzahlen zu. Britten hat stattdessen zur Orientierung Nummern über seine Partitur verteilt, was ich mir aber schwierig vorstelle, wenn der Dirigent sagt: „Wir setzen ein im achten Takt nach der Nummer 80!“ und alle Beteiligten fangen an, mit den Fingern die Stelle auszuzählen. Oft ersetzt auch Britten sieben oder acht Takte in der einen Einheit durch eine ganze Pause mit Fermate in der anderen Einheit.
RS: Wie haben Sie dieses Problem gelöst?
WH: Ich habe nun konsequent die kleinsten Einheiten ausgezählt, wobei man sich im Einzelfall streiten kann, ob nicht ein 2/4 Takt mit anschließendem 3/4 Takt ein gemeinsamer 5/4 Takt hätte sein können. Aber dann würde sich sofort die Zahl an Takten ändern. So hat z. B. nach meiner Zählung das „Dies Irae“ 493 Takte, was die Orientierung leichtmachen würde, wenn meine Taktzahlen in die Chorhefte übertragen würden.
RS: Ein guter Hinweis!
WH: Aus meiner Sicht die beste Lösung. Genauso, wie das Problem, dass Britten die Anfänge der einzelnen Stücke nicht nummeriert hat. Zur Orientierung habe ich daher beispielsweise im 3. Satz, dem Offertorium, den Beginn mit 3.00 bezeichnet. Im Takt 16 erscheint dann die Nummer 3.61. Der Beginn des 4. Satzes, des Sanctus, wird mit 4.00 angegeben, dann kommt im Takt 7 als nächstes die Nummer 4.84 auf die Worte „Dominus Deus Sabaoth“. Der Schlusssatz, das Libera me, fängt mit 6.00 an, im Takt 14 kommt dann die Nummer 6.101 usw.
Eine besondere Problemstelle war im Sanctus die Nr. 4.85 „Pleni sunt caeli et terra gloria tua“, ein murmelnder Sprechgesang auf einer angegebenen Tonhöhe. Da habe ich viel experimentiert, um mit Achtel-Triolen und Sechzehnteln eine ungefähre, unvollkommene Annäherung hinzubekommen. So etwas lässt sich natürlich nur in der Probe gemeinsam einstudieren.
RS: Übedateien können lediglich Rhythmus und Tonhöhen simulieren. Wie helfen wir uns in der wichtigen Frage der korrekten Aussprache?
WH: Das ist nach wie vor leider ein Manko bei Übedateien. Was mir aber wichtig war: Die Sänger und Sängerinnen sollen verstehen, was sie da englisch hören und lateinisch selbst singen. So habe ich über sämtlichen Texten die französische Übersetzung in Blau und die deutsche Übersetzung in Rot angegeben. Und ich will noch weiter am Ball bleiben, zum Beispiel auch die Solisten-Stellen noch extra produzieren, und wenn jemand besondere Wünsche hätte, z. B. MP3, oder ein Stück in anderem Tempo, man könnte über alles reden.
RS: Wir freuen uns darauf. Herzlichen Dank, Herr Hochstrate, für unser Gespräch.
WH: Sehr gerne.
VDKC
31.07.2024