Eine Einführung von Volker Tosta
Der 16. Juli 2023 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte des aus dem mittlerweile 200-jährigen Liederkranz e. V. hervorgegangenen Konzertchors Stuttgart. Im traditionellen Sommerkonzert in der Markuskirche erklangen Werke von Haydn, Mendelssohn und zum Abschluss das „Te Deum“ WoO 16 von Joachim Raff.
Selten erlebt man, dass ein Werk aus dem Randrepertoire, die wohlbekannten Schlachtrösser der Chorliteratur in den Schatten stellt, aber hier war es geschehen: Ausführende und Publikum waren von dem Raff’schen Werk gleichermaßen entzückt. Zur großen Überraschung aller Beteiligten kam noch die Information, dass die Aufführung in Stuttgart überhaupt erst die zweite öffentliche Darbietung des Werks nach der Uraufführung im Juli 1853 war.
Die Reputation des 1822 in Lachen am Zürichsee als Sohn einer Schweizer Wirtstochter und eines Württembergischen Lehrers geborenen Joseph Joachim Raff nahm einen merkwürdigen Verlauf: als Pianist und Komponist war er Autodidakt und geriet nach anfänglicher Förderung durch Felix Mendelssohn Bartholdy an den Weimarer Musenhof als Assistent von Franz Liszt. Der zunehmende Dissens mit dem Neudeutschen Kreis führte zu seinem Weggang aus Weimar (1856) und einer zunächst unsicheren Existenz als Musiklehrer und freischaffender Komponist in Wiesbaden. Während seiner Zeit dort erwarb sich Raff jedoch zunehmenden Ruhm als Tonsetzer, sodass er seine Lehrtätigkeit aufgeben konnte. Mitte der 1870er Jahre erklangen seine Orchesterwerke in allen Konzertsälen der westlichen Welt. „Among living German composers there are three who, by common consent, are admitted to stand in the front rank […] Wagner, Brahms, and Raff,“ urteilte der britische „Monthly Musical Record“ im Jahr 1875. Raffs Bekanntheit führte dazu, ihn als Gründungsdirektor des Dr. Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt/Main zu berufen, wo unter anderem Clara Schumann Mitglied seines Kollegiums war. Nach fünf Jahren zermürbender Arbeit machte 1882 ein Herzinfarkt seinem Leben ein frühes Ende. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Interesse der Musikwelt am Komponisten Raff schon nachgelassen und die Hundertjahrfeier seiner Geburt im Jahr 1922 galt dann einem schon längst vergessenen Komponisten. Dass sein Name heute nicht völlig unbekannt ist, ist einer Renaissance seiner Werke auf Tonträgern und in Rundfunkprogrammen zu verdanken, die Ende des 20. Jahrhunderts einsetzte und noch immer Neuaufnahmen erscheinen lässt. Wie stets reagiert der Konzertbetrieb auf solche Entwicklungen zögerlich, aber immerhin wurden in den 2020er Jahren drei seiner sechs Opern aufgeführt (davon zwei Uraufführungen) und sein spätes Apokalypse-Oratorium erfuhr beeindruckende Aufführungen in seinem Geburtsort und in Leipzig.
Raff wurde schon von Zeitgenossen als „Wandelndes Konversationslexikon“ bezeichnet. Seine intellektuellen Fähigkeiten machten ihn zu einem faszinierenden, aber auch gefürchteten Disputierer. Sein intellektuelles Wesen glich Raff in frühen Jahren durch einen Hang zu Schabernack und allerlei Albereien und Streiche aus, die später durch einen teils sehr sarkastischen Humor ersetzt wurden. Die gründliche Kenntnis der musikalischen Tradition und ihrer philosophischen Wurzeln waren bei ihm genauso allgegenwärtig wie sein Bestreben, auch neueste Entwicklungen in sein kompositorisches Vokabular aufzunehmen. Die aus diesem Denken resultierende Musik ist fast zwangsläufig polystilistisch, intelligent-eklektisch und nicht durch eine leicht wiedererkennbare Tonsprache geprägt, wie bei vielen seiner berühmten Zeitgenossen. Schon früh in Raffs Karriere charakterisierte Franz Liszt dessen Musik wie folgt: „Als Musiker lehnt er sich oft an Mendelssohn, am entschiedensten an Wagner, manchmal an Berlioz, in einzelnen Momenten auch an italienische Komponisten an. Sein Stil ist gedrungen, voll reflektiert und reich an glücklichen harmonischen Feinheiten und Wendungen, deren Wagnisse sich jedoch fast immer auf die Basis der Regel zurückführen lassen; dabei zieht er gesuchte Kombinationen der spontanen Eingebung vor. Bis in das Kleinste ausgearbeitet verfolgen sie mehr den Zweck vieles in einen bestimmten Raum zu drängen, als den Ausdruck und die Gesamtwirkung des Ganzen zu berücksichtigen oder auch zu erhöhen. Derartige Stellen ist man oft versucht mit einem sehr kunstvollen Geweben zu vergleichen dessen Fäden sich in der geschicktesten Weise nach allen Richtungen hinziehen, ohne dass dadurch der Glanz des Stoffes erhöht würde oder sich die eingewirkten Muster deutlicher vom Untergrund abzeichneten. Ein natürlicher Hang in Verbindung mit wissenschaftlicher Prätention führen ihn zur Polyphonie […] Raffs Originalität besteht namentlich in dem Wie, mit welchem er die angewandten Elemente vereinigt und assimiliert. Sein Stil sichert ihm unter den Komponisten der Jetztzeit einen gesonderten Platz und stellt seine Individualität schon jetzt in die Zahl derer, die sich bereits eines anerkannten Rufes erfreuen. Wenn es wahr ist, dass die Kunstwerke durch ihren Stil leben, so dürfen die Arbeiten Raffs einer ziemlichen Dauer sicher sein. Er hat sich einen Stil geschaffen, der vollständig mit den Eigenheiten seines Talents und seiner Individualität übereinstimmt.“ Treffender kann man die Musik Raffs nicht beschreiben, der im damals so zentralen Parteienstreit der deutschen Musik zwischen Traditionalisten und Neudeutschen sich anschickte, die „terra firma eines neutralen Terrains [… zu] gewinnen“ und die reiche Tradition mit modernen Errungenschaften zu einer Synthese zu verbinden.

Es braucht also eine große Vertrautheit mit seinen Werken, um den „Raff“ auch in unbekannten Stücken herauszuhören. Dies verbindet ihn mit dem 13 Jahre jüngeren und ebenso vielseitigen Camille Saint-Saëns, zu dessen Wirken es einige erstaunliche Parallelen gibt. Bei aller Kunstfertigkeit in Kontrapunkt, Harmonik und Orchesterkolorit erscheint sein musikalischer Satz immer einer dem jeweiligen Anlass gemäßen, spontanen Inspiration zu folgen. Den sprichwörtlichen Brahms’schen „Katzenjammer“ beim Komponieren kannte Raff nicht. Seine schon den Zeitgenossen auffallende Produktivität – es sind ca. 400 Werke überliefert – ist zwar für einen Komponisten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts außergewöhnlich, orientiert sich aber an Maßstäben, die für die Lebensleistungen von Bach, Mozart und Schubert unwidersprochen sind. Was er verabscheute, war Rührseligkeit und Gefühligkeit. Dies gibt seinen Werken einen Zug von brillanter Geschliffenheit, die man bewundern kann, die stark berührt, aber selten betroffen macht. Eine Art „neo-klassizistische“ Grundhaltung ist spürbar und steht quer zu den Forderungen nach einer persönlichen Botschaft, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zunehmend erhoben wurde. Raff muss sich dieses Mankos bewusst gewesen sein und glich es durch eine teils volkstümliche, teils salonhafte Melodiösität aus, die seine Werke ohrenfällig attraktiv machen. Das ist eine Parallele zu Tschaikowsky, der nachweislich Raff sehr bewundert hat. Generell sind seine Tempi schnell. Entsprechend müssen die Ausführenden einer Raff’schen Komposition immer mit einer schwungvollen Frische zu Werke gehen, muss das zumeist schnelle Grundtempo (Metronombezeichnungen, wo vorhanden) mit aller agogischen Freiheit behandelt werden, damit die Musik so lebendig wird, wie sie erdacht ist.
Raffs Ruhm zu Lebzeiten beruhte im Wesentlichen auf seinen Symphonien und einigen Werken der Kammer- und Klaviermusik. Mit seinen sechs Opern konnte er sich trotz anfänglicher Erfolge nicht durchsetzen und die Kritik musste verwundert konstatieren, welche Schätze dem Publikum mit „Dame Kobold“ (Regensburg 2020) und „Samson“ (Weimar 2022) bislang vorenthalten waren. Seine Chorwerke sind bislang nur wenigen bekannt und bieten reichhaltige Möglichkeiten für Neuentdeckungeb. Im Grunde ist in ihnen der ganze Kosmos der Raff’schen Muse enthalten, seine Fähigkeit, die üppigen Harmonien und expressiven Möglichkeiten der Ära mit klassischen Formen zu verbinden, kontrapunktische Finessen und ein berührender melodischer Einfallsreichtum. Seine Chorwerke umfassen sowohl weltliche als auch geistliche Stücke, von großen Oratorien und Messen bis hin zu kleineren, intimen A-cappella-Werken. Hier zunächst ein Überblick:
Werke für Chor und Orchester
- Der 121. Psalm WoO 8, 3 Soli und gemischter Chor, 1848, momentan verschollen [30 min.]
- „Te Deum“ WoO 16, gemischter Chor, 1853, Edition Nordstern [10 min.]
- „Dornröschen“ Märchen-Epos WoO 19, Soli und gemischter Chor, 1855, Partiturautograph (Staatsbibliothek Berlin), Veröffentlichung geplant (Edition Nordstern) [2h 7 min.]
- „Wachet auf!“ op. 80, Solo und Männerchor, 1858, Schott [20 min.]
- „Deutschlands Auferstehung“ Festkantate op. 100, Solo und Männerchor, 1863, Kahnt [20 min.]
- „De profundis“ (130. Psalm) op. 141, Solo und gemischter Chor, 1867, Edition Nordstern [40 min.]
- Zwei Gesänge op. 171, gemischter Chor, 1871, Siegel [7 min.]
- Zwei Gesänge op. 186, Solo und gemischter Chor, 1873, Edition Nordstern [15 min.]
- „Die Tageszeiten“ Konzertante für Chor, Pianoforte und Orchester op. 209, gemischter Chor, 1877, Breitkopf und Härtel [40 min.]
- „Die Sterne“ Kantate WoO 53, gemischter Chor, 1880, Edition Nordstern [25 min.]
- „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ Oratorium op. 212, 1881, Breitkopf und Härtel [1 h 50 min.]
Werke für Chor a cappella
- Zehn Gesänge op. 97, Männerchor, 1863, Kahnt [13 min.]
- Zehn Gesänge op. 122, Männerchor, 1863, Kahnt [23 min.]
- Vier Marianische Antiphonen WoO 27, nach dem cantus firmus der römischen Kirche, 5–8 stimmiger gemischter Chor, 1868, Edition Nordstern [14 min.]
- Kyrie und Gloria WoO 31, 6 stimmiger gemischter Chor, 1869, Edition Nordstern [8 min.]
- Pater Noster WoO 32, 8 stimmiger gemischter Chor, 1868, Edition Nordstern [8 min.]
- Ave Maria WoO 33, 8 stimmiger gemischter Chor, 1868, Edition Nordstern [6 min.]
- Zehn Gesänge op. 195, Männerchor, 1870, Kahnt [17 min.]
- Zehn Gesänge op. 198, gemischter Chor, 1874, Seitz [25 min.]
Über seinen chorsinfonischen Erstling, den 121. Psalm WoO 8, kann man nur spekulieren, denn die Partitur ist derzeit verschollen. Da sie aber in Werkverzeichnissen als Teil von Raffs Nachlass aufgeführt wird, besteht immer noch Hoffnung, das Stück eines Tages in einer Sammlung wiederzuentdecken. Raff komponierte den Psalm 1848 in Stuttgart und leitete selbst die erfolgreiche Uraufführung im Jahr 1855 in Weimar. Liszt war von dem Werk angetan und zitierte ein Thema daraus in seiner eigenen Vertonung des 23. Psalms.

Das schon eingangs erwähnte Te Deum WoO 16 entstand 1853 zu den Inthronisationsfeierlichkeiten des dortigen Großherzogs Karl Alexander und wurde in der Herderkirche in Weimar zusammen mit Kompositionen von Liszt aufgeführt. Das kurze Stück ist durch rauschhaft-festliche Passagen und einen wahren Ohrwurm im Zentrum zu den Worten „Salvum fac ducem nostrum Domine“ gekennzeichnet. Als Kuriosum sei erwähnt, dass hier das textlich verkürzte, katholische „Te Deum“ im Auftrag der Lutherischen Kirche für einen protestantischen Fürsten komponiert wurde. Eine CD-Aufnahme der Firma Sterling Records aus dem Jahr 2012 stellte das Werk wieder zur Diskussion. Der Konzertchor Stuttgart unter der Leitung von Andreas Großberger bestritt die erfolgreiche öffentliche Wiederaufführung im Jahr 2023. Eine weitere Aufführung durch den katholischen Kirchenchor St. Peter und Paul in Bühl (Baden) unter der Leitung von Michael Meier ist für November 2024 geplant.
Das als „Märchen-Epos“ bezeichnete Dornröschen WoO 19 aus dem Jahr 1855 stellt den vielleicht größten, noch zu hebenden Schatz unter den Werken Raffs dar. Zwar wurde das Stück bereits im Mai 1856 in Weimar uraufgeführt und von Franz Liszt in einem mehrseitigen Artikel gewürdigt, aber es wurde anschließend nicht veröffentlicht. Dies könnte mit dem Fortgang von Raff nach Wiesbaden im selben Jahr zusammenhängen. Glücklicherweise hat sich das Partiturautograph erhalten und bei der Edition Nordstern haben die Arbeiten an einer Erstausgabe bereits begonnen. Vorab wurden schon zwei Orchesterstücke aus diesem Werk für CD eingespielt, die einen Eindruck von der märchenhaft-zauberhaften Anlage des Werks geben. Raff knüpft mit dem Dornröschen an Werke wie Der Rose Pilgerfahrt oder Das Paradies und die Peri von Robert Schumann an und liefert hier einen gewichtigen Beitrag zum leider sehr vernachlässigten weltlichen Oratorium des 19. Jahrhunderts, welches im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft das geistliche Oratorium in den Hintergrund drängte. Vielgespielte Werke wie Das Märchen von der schönen Melusine und Aschenbrödel von Heinrich Hofmann verfolgten diese Linie. Im Umfeld heutiger Blockbuster-Programme mit kaum einem Duzend ständig aufgeführter Werke sei auf die Gattung des Märchenoratoriums empfehlend hingewiesen, die nicht nur musikalisch ergiebig ist sondern auch inhaltlich frische Akzente setzen kann. Beim Dornröschen von Raff muss aber der Chor bereit sein, das Gewicht seiner Beiträge mit Orchester und Solist*innen zu teilen. Insbesondere das Orchester kommt in „Vorspiel“, „Die Dornhecke“, „Auszug zur Jagd“, „Elfenwalten“, in kleinen sinfonischen Dichtungen „en miniature“ ausgiebig zu Wort. Raffs Orchestrierung ist reich und farbenfroh, mit besonderem Augenmerk auf die Holzbläser und Streicher, die die märchenhafte Stimmung unterstreichen. Die Harmonien sind typisch romantisch, mit einer Neigung zu üppigen Klanglandschaften und expressiver Melodieführung. Diese Elemente zusammen schaffen ein Werk von großer emotionaler Reichweite, das die Zuhörenden in die Welt des Märchens eintauchen lässt. Trotz seiner eher gleichberechtigten Rolle ist der Einsatz des Chors bemerkenswert. Er fungiert nicht nur als Erzähler, sondern übernimmt verschiedene Rollen innerhalb der Geschichte. Dadurch erhält das Werk eine zusätzliche dramatische Ebene, die das Publikum direkt in das Geschehen hineinzieht. Der Chor verleiht den emotionalen Höhepunkten des Märchens Nachdruck und verstärkt die atmosphärische Wirkung der Musik. Von der Harmonik her gesellt sich Dornröschen zum parallel entstandenen Musikdrama Samson, in dem Raff die neuesten Errungenschaften der Neudeutschen Schule um Wagner und Liszt anwendete. Später wurde seine Musiksprache in Abwendung vom Weimarer Kreis und auf der Suche nach einem „neutralen Terrain“ konservativer. Erst mit seinem Apokalypse Oratorium op. 212 knüpfte er wieder an seine Weimarer Zeit an. Dass sich Raff dem Fortschrittspostulat der Musikwissenschaft entzog, ist seiner Reputation nicht gut bekommen.

Die beiden Kantaten für Solo und Männerchor Wachet auf! und Deutschlands Auferstehung sind im Kontext der deutschen Einheitsbestrebungen nach Ende der Napoleonischen Kriege und im Gefolge der 1848er Revolution zu sehen. Raff gehörte dem bürgerlich-liberalen Lager an und fühlte sich trotz seines Schweizer Geburtslandes, das er vor allem wegen seiner Naturschönheiten in Töne setzte, politisch als Deutscher und nahm an den Einigungsbestrebungen lebhaften Anteil. Dass diese ihren Impetus vor allem gegen französische Bestrebungen (Napoleon, immer wiederkehrende Debatten um das linke Rheinufer) fand, ist heute befremdlich, muss aber dem damaligen Zeitgeist zugerechnet werden. Nach dem Zeugnis seiner Tochter Helene war Raff gewiss kein Nationalist. So bestand er nach dem 1870/71er Krieg auch gegen den Rat seiner Verleger auf den französischen Titeln vieler seiner Klavierstücke und widmete kurz nach diesem Krieg sein op. 168 seinem französischen Kollegen Saint-Saëns. Eine Wiederaufführung der meisterhaft gearbeiteten Kantaten müsste in eine entsprechend gestaltete Geschichtsstunde integriert werden, damit die Zusammenhänge nachvollziehbar werden. Für Raff bedeutete Deutschlands Auferstehung einen gewichtigen Schritt in seiner Karriere. Er gewann damit den ersten Preis in einem vom Musikverlag Kahnt ausgeschriebenen Wettbewerb zum fünfzigsten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig.
Mit dem Franz Liszt gewidmeten symphonischen Psalm De Profundis op. 141 suchte Raff nach seiner Trennung vom Weimarer Kreis die Versöhnung mit seinem ehemaligen Mentor. Hierzu schreibt Raffs Tochter Helene: „Durch die Widmung des ‚De profundis‘ zeigte Raff, dass die alte persönliche Anhänglichkeit trotz sachlicher Meinungsverschiedenheiten fortbestand; und zugleich erfüllte er einen Wunsch Liszts, der ihn stets angetrieben hatte, doch mehr geistliche Musik zu schreiben. Liszt freute sich an dem Werke und der Zueigung; brieflich gegen die Fürstin [zu Sayn-Wittgenstein] erwähnt er es als ein bedeutendes Werk, das nur ein wenig zu weit ausgesponnen sei. Namentlich der Satz: ‚A custodia matutina' hatte seinen Beifall; gewöhnlich diente den Kunstgenossen als eine Art Merkmal des De profundis der Schlußchor: ‚Et ipse redimet‘ mit der viel bewunderten großen Doppelfuge. Sowohl bei einem der Allgemeinen Musikfeste als sonst bei verschiedenen Anlässen kam es zur Aufführung, das letzte mal nach Raffs Tode in der Stadtkirche in Weimar, anlässlich eines geistlichen Konzertes zum Besten der Bach-Stiftung, gemeinsam mit Liszts 13. Psalm.“ Das doppelchörige Werk besteht aus fünf Sätzen höchst unterschiedlichen Charakters. Dem elegischen und melodisch bezwingenden ersten Satz für gemischten Chor „De profundis“ folgt ein dramatisch aufgeladener Doppelkanon für Männerchor: „Si iniquitates“. Eine seraphische Arie für Solo-Sopran mit Frauenchor „Quia apud te“ von Mendelssohn’scher Kantabilität schließt sich an. Es folgt das von Liszt so gelobte Tonfresko „A custodia matutina“, mit dem Raff die bekannten Pfade traditioneller Chorsinfonik weit hinter sich lässt, um dann in der Doppelfuge „Et ipse redemit“ seine ganze kontrapunktische Gewandtheit zu demonstrieren. Das Werk präsentiert Raffs ganzen musikalischen Kosmos, stellt aber an die Ausführenden recht hohe Ansprüche. Eine Aufnahme davon existiert seit 2012 bei Sterling Records, die aber klanglich nicht immer der Großartigkeit des Stücks gerecht wird.

Die Stücke für Solo und Chor op. 171 und op. 186 sind typisch für weltliche Chormusik mit Orchester aus der romantischen Epoche. Die Ansprüche sind gegenüber dem De profundis stark zurückgenommen. Einen guten Eindruck der Stücke bekommt man von der auf Sterling Records erschienenen Aufnahme von op. 186. Die etwas schlichten Texte stammen zum Teil aus der Feder des Komponisten.
Mit den Tageszeiten op. 209 für Klavier, Chor und Orchester knüpft Raff an eine inzwischen fast verschollene Tradition solcher Werke an, zu der auch Beethovens Chorfantasie op. 80 gehört. Den Text zu den Chören lieferte seine Tochter Helene. Der Klavierpart ist hoch virtuos, der Chorpart ist kunstvoll kontrapunktisch, der Text ist schlicht, die Melodik ist von volkstümlicher Einprägsamkeit. Das Stück errang sich nach Angaben von Helene Raff einen „Achtungserfolg“, erreichte aber wegen der außergewöhnlichen Besetzung keine weitere Verbreitung und ist eher als Kuriosum zu betrachten. Der Verlag Breitkopf und Härtel hatte offenbar kein großes Vertrauen in das Werk und stellte Raff die Druckkosten in Rechnung, die mit den Einnahmen aus den Aufführungen verrechnet werden sollten. Offenbar kam Raff hier niemals in die Gewinnzone.
Textautorin der Chorkantate Die Sterne WoO 53 ist wiederum Helene Raff. Diese blieb unveröffentlicht im Nachlass des Komponisten und wurde erst 2013 bei der Edition Nordstern herausgegeben. Das fünfsätzige Werk ist zugänglich und abwechslungsreich geschrieben. Einige Aufführungen in jüngster Zeit zeigen, dass es auch von Amateurchören und Liebhaberorchestern bewältigt werden kann. Von besonderem Reiz ist der erste Satz, der ein klingendes Abbild des nächtlichen Sternenhimmels herbeizaubert. Eine Aufnahme bei Sterling Records gibt hiervon einen gelungenen Eindruck.
Einen wesentlichen Teil seiner Schulzeit verbrachte Raff in einem Jesuitenkolleg und man darf sich ihn als jungen Erwachsenen durchaus religiös-katholisch geprägt vorstellen. Das änderte sich offenbar in seiner Weimarer Zeit, wovon der fast atheistische Samson – eine Bibeloper ohne Gott, wo Religion nur politisch missbraucht wird – Zeugnis gibt. Liszts Wunsch nach „mehr geistlichen Werken“ ignorierte Raff zunächst hartnäckig. Gegen Ende der 1860er Jahre flammte aber sein Interesse an Religion offenbar wieder auf, was der nach 1870 einsetzende Kulturkampf der Reichsregierung gegen die katholische Kirche, den Raff mit „Christenverfolgung“ bezeichnete, weiter befeuerte. Sein Oratorium Welt-Ende – Gericht – Neue Welt op. 212 stellt eines seiner ambitioniertesten und visionärsten Werke dar, das sich mit den tiefgründigen Themen des Jüngsten Gerichts und der Erschaffung einer neuen Welt auseinandersetzt. Komponiert gegen Ende seines Lebens, genauer in den Jahren 1879 bis 1880, reflektiert dieses monumentale Werk Raffs reife musikalische Sprache und seine Fähigkeit, komplexe spirituelle und eschatologische Konzepte in Musik zu übersetzen. Die Textgrundlage lieferte die Offenbarung des Johannes (Kap. 5, 6, 20 und 21), zu der Raff aber noch freie Nachdichtungen beisteuerte.
Das Oratorium ist in drei Teile gegliedert, die den Titelthemen entsprechen. Diese Struktur ermöglicht Raff, eine breite emotionale und thematische Palette zu erkunden, von den dramatischen und oft düsteren Visionen des Weltendes und des letzten Gerichts bis hin zu den hoffnungsvollen und erhabenen Darstellungen einer erneuerten Schöpfung. Neben Solo Arien und Rezitativen stehen prägnante Chorsätze und immer wieder rein orchestrale Einschübe, die dort eingesetzt werden, wo Worte nicht ausreichen, die jeweiligen Stimmungen zu schildern.

Welt-Ende: Hier thematisiert Raff das Ende der bekannten Welt, indem er musikalische Bilder von Chaos und Zerstörung zeichnet. Dissonanzen, abrupte dynamische Wechsel und eine klangmalerische Orchestrierung spiegeln die apokalyptischen Visionen wider. Bemerkenswert ist hier vor allem die orchestrale Schilderung der apokalyptischen Reiter: Pest, Krieg, Hunger, Tod und Hölle.
Gericht: Dieser Teil konzentriert sich auf das Jüngste Gericht, einen Moment der Abrechnung und des göttlichen Urteils. Raff setzt Chor und Solisten ein, um die Vielschichtigkeit des Gerichtsprozesses darzustellen, wobei er zwischen Anklage, Fürbitte und dem endgültigen Urteil wechselt. Die Musik schwankt zwischen bedrohlichen Untertönen und Momenten der Barmherzigkeit und des Flehens, was die Ambivalenz und Spannung dieses endzeitlichen Ereignisses einfängt.
Neue Welt: Der abschließende Teil des Oratoriums ist eine musikalische Verkündung der Hoffnung und der Erneuerung. Hier weicht die zuvor herrschende dramatische Intensität einer Atmosphäre des Friedens und der Harmonie. Raff nutzt lyrische Melodien, wohlklingende Harmonien und eine leuchtende Orchestrierung, um die Schönheit und Reinheit der neuen Schöpfung zu illustrieren.
In seinem letzten großen Werk verbindet Raff geschickt textliche Inhalte mit musikalischen Mitteln, um eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen von universeller Bedeutung zu schaffen. Das Werk zeugt von seinem tiefen Interesse an philosophischen und theologischen Fragen sowie von seinem Streben, Musik als Medium für die Erforschung der menschlichen Existenz und des kosmischen Schicksals zu nutzen. Obwohl es zu den weniger bekannten Werken Raffs gehört, stellt es einen wichtigen Beitrag zur Gattung des Oratoriums im 19. Jahrhundert dar und bietet einen faszinierenden Einblick in die musikalische Vorstellungskraft und das kompositorische Können des Komponisten.
Der von Raff noch selbst erlebten Uraufführung 1882 in Weimar folgten rasch einige Folgeproduktion in Deutschland und England (u. a. von Arthur Sullivan geleitet). Mit der in den 1890er Jahren einsetzenden Vernachlässigung der Werke Raffs geriet auch sein op. 212 in Vergessenheit. Erst 1986 wurde das Stück in einer ambitionierten Produktion der Balinger Kantorei und Mitgliedern des Orchesters des Südwestfunks unter der Leitung von Gerhard Rehm wieder zur Diskussion gestellt. Dem folgte 2002 eine Aufführung mit der Schiersteiner Kantorei unter der Leitung von Martin Lutz als Höhe- und leider auch Schlusspunkt des Wirkens der Joachim-Raff-Gesellschaft e. V. in Wiesbaden. Beiden Produktionen haftet eine gewisse, ob der Schwierigkeiten des Werks nachzuvollziehende Vorsichtigkeit und Blässe an. War es vielleicht doch Raffs intellektuelle Natur, die den „letzten Dingen“ keinen passenden Ausdruck zu geben vermochte? Die Kritik jedenfalls war zurückhaltend und sprach von einer „gemütlichen Apokalypse“. Das volle Potential des Oratoriums lotete erst 2022 Gregor Meyer mit dem GewandhausChor und der camerata lipsiensis in Aufführungen in Lachen (Geburtsort Raffs) und Leipzig aus. Hier erst ging man mutig zu Werk und wurde Raffs Vision musikalisch erfahrbar. Den starken Eindruck kann man zum Glück auf dem 2024 erschienenen Mitschnitt auf dem Label cpo nacherleben.
Die sieben geistlichen Motetten für Chor a cappella wurden kurz nach dem De profundis komponiert, aber zu Lebzeiten Raffs nicht veröffentlicht. Raffs Verleger Schuberth sandte die eingereichten Stücke zurück, obwohl der davon angetane Liszt sich anbot, die Stücke Papst Pius IX. zur Widmung vorzulegen. Offenbar waren die Motetten im Kontext des einsetzenden Kirchenkampfs politisch unerwünscht. Die Drucklegung erfolgte erst Anfang der 2000er Jahre durch die Edition Nordstern. Obwohl die Vermutung naheliegt, dass Raff hiermit der cäcilianischen Reformbewegung und der dort geforderten „Reinheit der Tonkunst“ entgegenkam, lehrt ein Blick in die Partituren etwas anderes: die angewandten Mittel reichen von der strengen Vokalpolyphonie der Renaissance (Vier Marianische Antiphonen), homophonen Wendungen, dissonierenden Klangballungen bis zu gewagten harmonischen Wendungen (Pater noster), die ein intonationssicheres Ensemble erfordern. Eine jüngst beim Label Capriccio erschienene CD mit den Basler Madrigalisten gibt einen sehr gelungenen Eindruck dieser Motetten.
Mit den Weltlichen Gesängen für Männerchor op. 97, 122, 195 und den Zehn Gesängen für gemischten Chor op. 198 hatte Raff mehr Glück bei seinen Verlegern, kam er doch einem starken Bedürfnis nach moderner Literatur für das aufblühende Chorwesen entgegen. Die Texte folgen meist den Vorlagen längst vergessener romantischer Dichter, schließen aber auch Lyrik von Hoffmann von Fallersleben, Ernst Moritz Arndt, Emanuel Geibel und Johann Wolfgang von Goethe ein. Lediglich op. 198 basiert ausschließlich auf den Texten von Franz Alfred Muth, den Raff persönlich kannte und der einige der Lieder zunächst ausschließlich für Raff schrieb. Die Sammlung erwies sich als recht erfolgreich und stand am Anfang einer Welle von Muth-Vertonung, zu der Rheinberger, Humperdinck und Reger weitere Beiträge lieferten. Auch von diesem Opus legt die schon erwähnte CD mit den Basler Madrigalisten ein klangschönes Zeugnis ab. In dem Begleitheft zur CD charakterisiert Severin Kolb die Stücke wie folgt: „Zu seinem musikalischen Vokabular gehören der lyrische Liedsatz in symmetrischer Syntax, imitatorisch-polyphone Passagen und, wenn Phänomene wie Windstöße und Glockenklang evoziert werden, Madrigalismen, aber auch – gerade in den religiös konnotierten Bereichen – chromatisch durchwirkter, modulierender Klangzauber.“
Trotz der Anerkennung, die Raff zu Lebzeiten erfuhr, sind viele seiner Chorwerke heute weniger bekannt und werden selten aufgeführt. Dies steht im Kontrast zu der Qualität und dem Reiz seiner Musik, die eine Wiederentdeckung und Neubewertung verdient. Raffs Chorwerke bieten nicht nur einen wertvollen Beitrag zum Chorrepertoire der Romantik, sondern sind auch Zeugnisse der künstlerischen Bandbreite und des kompositorischen Geschicks dieses vielseitigen Komponisten.

Bibliographie
- Helene Raff (1925), Joachim Raff – Ein Lebensbild, Regensburg: Gustav Bosse Verlag
- Albert Schäfer (1888), Chronologisch-systematisches Verzeichnis der Werke Joachim Raffs, Wiesbaden: Rudolf Bechtold
- Mark Thomas (2021), The music of Joachim Raff, an illustrated catalogue, Stuttgart: Edition Nordstern
- Severin Kolb (2023), Ein Spiegel geistiger Entwicklung? Joachim Raffs Chormusik a cappella, Booklettext zu „Joachim Raff choral works a capella“, Capriccio C5501
Diskographie
- Joachim Raff: Choral works a capella, Capriccio C5501
- Joachim Raff: Welt-Ende – Gericht – Neue Welt op. 212, cpo 555 562-2
- Joachim Raff: Works for choir, piano & orchestra (op. 209, op. 186, WoO 53), Sterling Records, CDS-1089-2
- Joachim Raff: Suite for piano and orchestra op. 200, overtures & preludes (Dornröschen), Sterling Records, CDS 1085-2
- Joachim Raff: Choral works (WoO 16, op. 141, WoO 27, WoO 32, WoO 33), Sterling Records, CDS-1098-2
- Joachim Raff: Symphony No. 5 et al. (Dornröschen), Chandos, CHSA 5135
Weblinks
- Joachim Raff Gesellschaft und Archiv (Lachen, CH): www.joachim-raff.ch
- Leben und Werke von Joachim Raff (Mark Thomas): www.raff.org
- Edition Nordstern: www.edno.de
- Breitkopf und Härtel: www.breitkopf.com
Volker Tosta
07.08.2024
Volker Tosta ist Musikforscher, Herausgeber und Verleger und wohnt in Stuttgart. 1994 gründete er einen Musikverlag, die Edition Nordstern, deren Schwerpunkt auf der einer Werkreihe des Komponisten Joachim Raff liegt. Inzwischen wurden rund 50 Bände der Reihe veröffentlicht. Ab 2002 wandte er sich zunehmend der Herausgabe von Opern des 19. Jahrhunderts für Theater, Festivals und Rundfunkanstalten zu, darunter „Benedetto Marcello“ (Raff, 2002), „Alimelek oder Wirt und Gast“ (Meyerbeer, 2010), „Robin Hood“ (A. Dietrich, 2011), „Catharina Cornaro“ (F. Lachner, 2012), „Die sizilianische Vesper“ (Lindpaintner, 2015), „La Reine de Chypre“ (Halévy, 2017), „Zum Großadmiral“ (Lortzing, 2019), „Dame Kobold“ (Raff, 2020), „Samson“ (Raff, 2022) und „Die Eifersüchtigen“ (Raff, 2022). Künftig wird er die Beschäftigung mit der Joachim-Raff-Reihe weiterführen und plant weitere deutschsprachige Opern und Oratorien aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herauszugeben (Raff, Heinrich Hofmann, Franz von Holstein).