Groß-Kantate als Pasticcio – zusammengestellt von Hans Grischkat
Dass bislang verschollene Werke von J.S. Bach wiederentdeckt würden, wäre ein großer Zufall und ist wohl weniger zu erwarten. Aber es gab und gibt im Schaffen des Thomaskantors Kompositionen, die selten zur Aufführung kommen.
Die intensive Bach-Forschung, der Boom der historisch informierten Aufführungspraxis und die enzyklopädischen Einspielungen der Schallplatten-Industrie haben dafür gesorgt, dass heutzutage wohl kein Bach’sches Werk nicht gedruckt oder akustisch abrufbar wäre.
Ganz anders die Situation nach dem 2. Weltkrieg. Nur sehr zögerlich fanden die Chöre den Zugang zum Bach’schen Kantaten-Werk. Dies hatte eine ganze Reihe von Gründen. Ein wesentlicher war das nur sehr beschränkt verfügbare Aufführungsmaterial, daneben verhinderte die textliche Zweckgebundenheit mancher Kantaten (z.B. Trauungskantaten) eine Aufführung in anderem Zusammenhang oder erschwerten die z.T. sehr drastischen Texte des Pietismus einen Zugang zu dieser Musik. Nicht zuletzt verfügen etliche Kantaten über sowohl kompositorisch als auch stimmlich extrem anspruchsvolle Eingangschöre, die in den musikalischen Wiederaufbaujahren nach 1945 von kaum einem Laienchor zu leisten waren, sodass auch eine Aufführung solcher Kantaten unterblieb.
Zurück ins Bach-Jahr 1950: Die oben angeführten Gründe für die lückenhafte Beschäftigung mit den Kantaten Bachs ließ Grischkat nach Wegen suchen, diese großartigen Werke in die Kirchenmusik zurückzuholen und sie somit vor dem Vergessen zu bewahren. Er sammelte ganz gezielt solche Chorsätze, Arien und Rezitative aus zahlreichen Kantaten, die er dann bei seinen Aufführungen neben komplette Kantaten stellte. Dies blieb unbefriedigend und so befasste er sich mit dem Gedanken, aus all diesen Kantaten-Teilen eine Kompilation zu einer „neuen“ Groß-Kantate zu erstellen, die aber in sich schlüssig und inhaltlich stringent sein musste. In Prof. Köberle (Tübingen) und Pfarrer Rudolf Daur holte er sich theologische und linguistische Kompetenz[2] und so reifte die Idee, ein theologisch fundiertes, dem Katechismus verpflichtetes Oratorium, oder anders ausgedrückt: eine aus Teilen verschiedener Kantaten zusammengefügte Groß-Kantate zu erstellen. Dabei war Grischkat wichtig, keine Eingriffe in das Bach’sche Werk vorzunehmen, alle Tonarten (bis auf ein Rezitativ, des Anschlusses wegen) original zu belassen und einen logischen Sinnzusammenhang zu erstellen: „Es (ging) mir darum, unter allen Umständen das Bachsche Gesamtwerk im Prinzip unangetastet zu lassen“[3]. So erlebte dieses Pasticcio 1950 in der von Grischkat zusammengestellten Form seine Premiere.
Inhaltlich trägt diese Groß-Kantate sehr stark katechetische und liturgische Züge. Der Eingangschor (aus der Kantate BWV 146) „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“ gab dem Werk („Vom Reiche Gottes“) den Namen. Die gedankliche Entwicklung geht über die „Anfechtung der Seele, Sündenbekenntnis und Schulderfahrung, Kampf des Glaubens und Verheißung …’Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen’ … über den Gedanken des Abendmahls zu der Christus- und Geisteinwohnung… und schließt mit ’Lob und Preis’ “[4].
Grischkat stand bei der Erstellung des Werks auch mit Albert Schweitzer in gedanklichem Austausch. Dieser schrieb ihm u.a.: „… die Groß-Kantate ist schön zusammengestellt. Ein wundervolles Werk!“[5]
Das Pasticcio besteht im Einzelnen aus folgenden Kantaten-Teilen:
|
Nr. des Pasticcios |
Titel |
BWV |
Typus |
|
1 |
Sinfonia d-Moll (nach BWV 1052a) |
146/1 |
Sinfonia mit obligater Orgel |
|
2 |
Wir müssen durch viel Trübsal |
146/2 |
Chorsatz |
|
2a |
Unerforschlich ist die Weise (optional zu verwenden) |
188 |
Alt-Arie |
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3 |
In der Welt habt ihr Angst |
87/5 |
Bass-Arie |
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4 |
So sei nun, Seele, deine |
97/9 |
Choral |
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5 |
Es ist nichts Gesundes |
25/1 |
Chorsatz |
|
6 |
Ach führe mich |
96/4 |
Sopran-Rez. |
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7 |
Bald zur Rechten, bald zur Linken |
96/5 |
Bass-Arie |
|
8 |
Ich lieg im Streit |
177/5 |
Choral |
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9 |
Wer sich selbst erhöht |
47/1 |
Chorsatz |
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10 |
Es ist nichts Verdammliches |
74/6 |
Bass-Rez. |
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11 |
Greifet zu, fasset das Heil |
174/4 |
Bass-Arie |
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12 |
Du sollst Gott, deinen Herren, lieben Ende des 1. Teils |
77/1 |
Chorsatz |
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13 |
Von Gott kommt mir ein Freudenschein |
172/6 |
Choral |
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14 |
Schmücke dich, o liebe Seele |
180/1 |
Chorsatz |
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15 |
Wie nun? Der Allerhöchste spricht |
59/2 |
Sopran-Rez. |
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16 |
Komm, Heiliger Geist |
59/3 |
Choral |
|
17 |
Ich will dich all mein Leben lang |
117/7 |
Alt-Arie |
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18 |
Wir kommen, deine Heiligkeit |
195/5 |
Chorsatz |
|
19 |
Der Herr ist noch und nimmer nicht |
117/5 |
Alt-Arie |
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20 |
So kommet vor sein Angesicht |
117/9 |
Choral |
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21 |
Öffne meine schlechten Lieder |
25/5 |
Sopran-Arie |
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22 |
Die Himmel erzählen die Ehre Gottes |
76/1 |
Chorsatz |
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23 |
Lobe den Herren |
137/5 |
Choral |
So ergibt sich eine inhaltliche und musikalische Geschlossenheit, die diese Kompilation durchaus als eine Einheit erscheinen lässt. Sie enthält eine Reihe der köstlichsten und herausforderndsten Teile des Bach’schen Kantatenwerks und stellt in ihrer Stringenz eine absolute Bereicherung des Chor-Repertoires dar. Heutzutage, da alle erhaltenen Kantaten Bachs im Konzertleben zu hören sind und diskographisch vorliegen, entfällt weitgehend der ursprüngliche Antrieb, dem Vergessen entgegenzuwirken.
Dennoch bleibt die Aufführung dieses im Bach’schen Kantatenwerk „verborgenen Oratoriums“ eine reizvolle und lohnende (abendfüllende) Aufgabe. Der Autor dieser Zeilen hat das Werk mit seinem Maulbronner Kammerchor, dem Kammerorchester Il Capriccio sowie den Solisten Heike Heilmann, Franz Vitzthum und Falko Hönisch mit großem Gewinn aufgeführt und auf CD (Welt-Ersteinspielung, www.kuk-art.com) aufgenommen.
Jürgen Budday
28.11.2022



