Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde!
„Die Leute beklagen sich gewöhnlich, die Musik sei so vieldeutig; es sei so zweifelhaft, was sie sich dabei zu denken hätten, und die Worte verstände doch ein Jeder. Mir geht es aber gerade umgekehrt. Und nicht bloß mit ganzen Reden, auch mit einzelnen Worten, auch die scheinen mir so vieldeutig, so unbestimmt, so missverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte.“
Worte des großen Felix Mendelssohn Bartholdy, formuliert in einem Brief aus dem Jahr 1842. Sie geben uns zum Jahreswechsel 2021/2022 sehr zu denken. Die Musik kann uns noch immer nicht in dem Maße mit tausend besseren Dingen die Seele füllen, wie wir das dringend brauchen. Und wahrscheinlich haben wir zu vieldeutig geredet, waren unsere Gedanken zu unbestimmt, die Herausforderungen dieser irritierenden Zeit zu bestehen und Politik ebenso wie viele Gegner der aktuellen Maßnahmen von der Notwendigkeit von Musik ausreichend überzeugen.
Dabei wissen wir sehr wohl darum, dass eine „Matthäuspassion“ oder eine „Carmina burana“, ein Jazz-Konzert oder eine Urauffhrung in Freiheit zu musizieren nichts ist gegenüber der Verpflichtung, Menschenleben zu schützen. Nicht mit Manifesten, sondern mit Verständnis, Respekt und unendlichem Organisationstalent haben unsere Chöre zusammengehalten und – soweit mir von verschiedenen Seiten berichtet wurde – neben der künstlerischen Kraft den sozialen Aspekt des Singens immer wieder als Kern unseres Tuns in den Mittelpunkt stellen können. Sie haben Streit in ihren Reihen verhindert oder geschlichtet, zwischen unterschiedlichen Haltungen vermittelt und nach Wegen gesucht, weiter proben und auftreten zu können. In vielen Fällen ist das beispielgebend und hervorragend gelungen. Die Impfquote in den Chören ist den Nachrichten aus unseren Landesverbänden nach besonders hoch.
Was wir aber mehr denn je brauchen, sind Planbarkeit, Sicherheit und das Vertrauen auf langfristige künstlerische Konzepte. Ja, wir haben durchgehalten bis hierher. Aber seien wir ehrlich: So kann und darf es 2022 nicht weitergehen. In Schulen findet teilweise seit zwei Jahren kein geregelter und gleich gar kein regelmäßiger Musikunterricht mehr statt. Schul-, Kinder- und Jugendchören fehlen Generationen ganzer Klassenstufen, eine Welle, die sich auch in den Erwachsenenchören wiederfinden wird. Chöre mit höherem Altersschnitt geben auf, ambitionierte und vitale Konzertchöre können die Last der Organisation kaum noch tragen. Den Studierenden an den Musikhochschulen fehlt die Praxis, sie sehen keine Perspektiven und hangeln sich von einem Ersatzprojekt zum nächsten. Nach nunmehr fast zwei Jahren ohne eine grundständige und konzeptionell ambitionierte künstlerische Arbeit sind die Schäden bereits immens und in großem Stil zu spüren. Hinzu kommt, dass alle lobenswerten Förderprogramme meist nur partiell helfen können oder sich einzelnen Schwerpunkten widmen: Musik auf dem Land, Neugründungen, Kommunen unter 25.000 Einwohner usw. Die Hilfe für die Bestandschöre und -ensembles dagegen gerät zu oft aus dem Blickfeld.
Wir brauchen Kunst, Reflektion, Kreativität, um neue Ideen zu generieren, mit Fantasie Dinge immer wieder neu zu beleuchten! Erst das gibt uns die Kraft zu unserem die Gesellschaft beflügelnden künstlerischen Tun. Dieser selbstverständliche Rhythmus ist völlig aus dem Takt geraten. Wir brauchen es vor allem deshalb, weil die Menschen Sicherheit suchen, wie erst kürzlich der Hirnforscher Gerhard Roth in einem Interview festgestellt hat:
„Menschen haben große Probleme damit, sich in neuen, unbekannten Situationen rational zu verhalten. Sie werden von ihren Ängsten, ihren Bedürfnissen und ihren subjektiven Erfahrungen beherrscht. Da kommt Vernunft, etwa wissenschaftliches Denken, kaum gegen an. … die Wissenschaft hat genau das getan, was ihre Aufgabe ist. Sie hat Daten gesammelt, eingeordnet und verglichen, kurz: Sie hat Verstand und Vernunft bedient, nicht Gefühle.“¹
Es wäre die Aufgabe der Kunst, genau diese Lücke zu füllen und damit auch das Verständnis für die vielen Widersprüche zu befördern, die dadurch naturgemäß entstehen. Nur in der Balance zwischen Verstehen und Widersprechen kann Vertrauen statt Misstrauen wachsen, das Gefühl für die Zwischentöne entstehen. Dazu braucht es die Kunst.
Dass es uns in diesem Sinne gelingen möge, Verständnis füreinander, Vertrauen untereinander und damit Veränderungen zu befördern, hoffe ich von Herzen. Ein inspiriertes, energievolles, gesundes und sinnvolles Jahr möge das neue werden, eines, in dem wir den Sinn der Musik wiederfinden, der uns an so vielen Stellen verloren gegangen ist.
Ich grüße Sie im Namen des VDKC herzlich – Ihr
Prof. Ekkehard Klemm
VDKC-Präsident
[1] Zitiert nach: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/wie-bei-einem-einbruch-a-1e070b6d-0002-0001-0000-000180276376, abgerufen am 12.12.2021