Verband sieht Kreativität, Bildung und Demokratie gefährdet
Weimar, 29.02.2024
Die drohenden Kürzungen im musisch-kulturellen Bereich, die die bayerische Staatsregierung jüngst in den Raum stellte, lenkt den Blick auf die längst bestehenden gravierenden Mißstände an deutschen Schulen.
Vor dem Hintergrund eines breiten wissenschaftlichen Konsenses warnt VDKC-Präsident Prof. Ekkehard Klemm vor den gesamtgesellschaftlich relevanten Auswirkungen einer verkümmernden musischen Bildung auf Bildung, Kreativität, Demokratiefähigkeit und interkulturelle Kompetenzen der heranwachsenden Generation:
„Musikland Bayern – Ade?!“, fragt der Generalsekretär des Deutschen Musikrates Professor Christian Höppner in seiner ersten Stellungnahme nach dem fatalen Beschluss des bayerischen Kabinetts zum künftigen Profil der musischen Fächer.
Musikland Deutschland – Ade!, müssen wir fortfahren: Denn was in Bayern geplant wird, ist anderswo schon längst Realität. Zudem hat bereits eine Studie des Deutschen Musikrates und der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2020 die Zahlenbasis für eine alarmierende Situation vorgelegt, die bereits 2017 festgestellt worden war:
„Bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts fällt an deutschen Grundschulen aus – sofern
er überhaupt gegeben wird. Die Zahl 80 taucht auch woanders auf: Bis zu 80 Prozent der Lehrer unterrichten an unseren Grundschulen Musik fachfremd, das heißt, ohne ordentliches Wissen, ohne dass sie, in welcher Form auch immer, eine musikalische Ausbildung hatten.“[1]
Wenn nun der bayerische Ministerpräsident vorschlägt, 12 von 24 Rundfunkklangkörpern abzuschaffen (natürlich nicht die in Bayern) und seine Kultusministerin fast gleichzeitig den Musikunterricht zur Privatangelegenheit der Schulen und ihrer Lehrerinnen und Lehrer erklärt, kann Höppner nur zugestimmt werden, wenn er sagt:
„Musikalische Bildung öffnet Herz und Geist für das Miteinander und für die Auseinandersetzung mit den Ungewissheiten unserer Zeit. Denn Musik erreicht den Menschen in einer beispiellosen Breite und Tiefe – Söder und seine Bildungsministerin offenbar nicht. Wer die Musik so ins Abseits stellt, wird seiner politischen Verantwortung nicht gerecht und versündigt sich an der Zukunft unserer Kinder.“[2]
Den vielen Stellungnahmen verschiedener Musikverbände, der Kunsthochschulen Bayerns, des Tonkünstlerverbandes in Bayern sowie anderer Landesmusikverbände schließt sich der Verband Deutscher KonzertChöre (VDKC) vollumfänglich an. Wir verweisen ausdrücklich auf die Petition von Lisa Reinheimer, die bis zum 29.02.2024 schon fast 100.000 Unterschriften vorzuweisen hat.[3]
Mit dem Kommentar von Bernhard Neuhoff, BR-Klassik, sollte klar zum Ausdruck gebracht werden: Eine solche Entscheidung ist
„IGNORANT, WIDERSINNIG, UNGERECHT“.[4]
Sie ignoriert alle in den letzten Jahren ergangenen Vorschläge, Mahnungen und Initiativen der Verbände von 14 Millionen musizierenden Menschen in Deutschland. Sie widerspricht allen Studien der letzten Jahre über die Bedeutung kreativer Tätigkeiten und namentlich des Musizierens für die kognitive Leistungsfähigkeit gerade im Unterricht an den Schulen.
„Kreative Fächer müssten gestärkt werden, nicht reduziert. Denn Hirnforscher, Lernforscher, Entwicklungspsychologen haben es sorgfältig belegt, haben die Gründe erforscht und die Konsequenzen erklärt. Alle Studien zeigen es: Singen und Musizieren ist kein Gedöns. Kinder, die viel singen, sind nicht nur sozial kompetenter und emotional ausgeglichener. Sie können auch nachgewiesenermaßen andere besser verstehen, buchstäblich. Sie können sich besser, klarer, verständlicher ausdrücken. Singen fördert ganz unmittelbar die Verarbeitung sprachlicher Botschaften – emotional und kognitiv. Das wurde wieder und wieder festgestellt. Und die Hirnforschung kann auch erklären, warum das so ist. Dass singen den Spracherwerb fördert, ist also kein sentimentales Wunschdenken irgendwelcher Sangesfreunde, sondern Stand der Wissenschaft.“[5]
Hinzu kommt, dass das ohnehin stark von sozialer Herkunft bestimmte Schulsystem in Deutschland benachteiligte Kinder noch weiter vom Kennenlernen grundlegend nötiger Kompetenzen entfernt und damit Ungerechtigkeit befördert.
Bei so viel Klarheit und Einigkeit in der wissenschaftlich belegten Faktenlage und daraus auf demokratischem Weg zustande gekommener Empfehlungen großenteils ehrenamtlich arbeitender Verbände muss gefragt werden, was der Grund solch demonstrativer Ignoranz ist?
Die getroffenen Entscheidungen sind ein Affront gegen die Erkenntnisse der Wissenschaft, gegen die lebendige Praxis Millionen musizierender Menschen und am allermeisten ein Affront gegen die ästhetische Bildung unserer Kinder. Warum beschließen Politikerinnen und Politiker genau das Gegenteil von dem, was bewiesen und empfohlen ist?
Die Beschlüsse betreffen damit weit mehr als nur das Fach oder den Wert der Musik. Die Demokratie selbst ist es, die massiv ausgehöhlt wird, und die sie repräsentierenden Organe beweisen einmal mehr, dass sie das, was Musik nicht nur lehrt, sondern in der praktischen Ausübung vor allem erfahrbar macht, nicht besitzen: KREATIVITÄT.
Um die geht es. Wir brauchen sie dringend, wollen wir gegen die Autokraten dieser Welt und die Herausforderungen sogenannter künstlicher Intelligenz bestehen. Wir brauchen sie, um fremde Kulturen kennen- und verstehen zu lernen, um mit Menschen in direkter Nähe oder großer Ferne zu kommunizieren, und wir trainieren dadurch unsere eigenen Fähigkeiten, kognitiven Leistungen, unsere Empathie und unsere Emotionen.
Mit Bezug auf Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ schreibt die Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Philosophie“, Theresa Schouwink:
„Nur im ästhetischen Erlebnis […] erfahren wir unsere volle Humanität und Freiheit, was wiederum die Bedingung für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft darstellt.“[6]
Von der Kreativität führt eine direkte Linie über die Bildung zur Demokratie. Die Musik entwirft, schreibt, improvisiert und spielt eine bunte Vielfalt von Notenköpfen auf dieser Linie!
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[1] https://www.musikrat.de/fileadmin/redaktion/Media/DMR_Instagram/DMR_Studie_Musikunterricht_in_der_Grundschule_final.pdf (abgerufen am 29.02.2024)
[2] https://www.deutschlandfunk.de/musikunterricht-in-der-schule-ausverkauf-musikalischer-100.html (abgerufen am 29.02.2024)
[3] https://www.change.org/p/stoppe-die-zusammenlegung-der-f%C3%A4cher-kunst-musik-und-werken-in-den-grundschulen-in-bayern (abgerufen am 29.02.2024, 21.53 Uhr)
[4] https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/musik-kunst-unterricht-zusammengelegt-pisa-bayern-grundschulen-faecherverbund-kommentar104.html (abgerufen am 29.02.2024)
[5] https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/musik-kunst-unterricht-zusammengelegt-pisa-bayern-grundschulen-faecherverbund-kommentar104.html (abgerufen am 29.02.2024)
[6] Theresa Schouwink, Vom Nutzen der nutzlosen Kunst; Magazin Philosophie, Sonderausgabe 28, 300 Jahre Immanuel Kant, S. 105.