Ein Experiment
Der Einsatz Künstlicher Intelligenz bewegt zunehmend auch den Kulturbereich – ob bei der Schaffung von musikalischen Schöpfungen, der Erstellung von journalistischen Texten oder visuellen Werken.
Dabei wird aktuell eine Frage intensiv diskutiert: Welche Konsequenzen hat KI für die tägliche Arbeit und die Vergütung von Urheberinnen und Urhebern? So fordert etwa der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) eine angemessene Vergütung für die Nutzung von Texten, Fotos, Hörfunkbeiträgen und Bewegtbildern, die für das Training von Künstlicher Intelligenz genutzt werden und wird dabei von den Urheberrechtsgesellschaften lautstark begleitet.
Argumentiert wird, dass die verwendeten Quellen letztlich geistiges Eigentum konkreter Personen sind; KI-erzeugte Werke werden derzeit aber noch nicht als urheberrechtlich geschützt angesehen. Ein adäquater Ausgleich zwischen einer Förderung von Innovationen und dem Schutz berechtigter Urheberinteressen steht bei den Diskussionen an erster Stelle.
KI auch im Choralltag einzusetzen, ist sicher eine lohnende Anregung und einen Versuch wert. Für die Erstellung des Programmheftes zu einem Konzert mit mehreren Werken von Johannes Brahms wagte Michael Werbeck, Vorsitzender des Bremer RathsChores, ein Experiment: Mit Hilfe von KI sollte ein Text als Grundlage erstellt werden. Chat GPT lieferte innerhalb weniger Sekunden eine umfassende Antwort auf die Bitte: „Erläutere den Inhalt und musikalische Besonderheiten des Chorstücks Nänie von Johannes Brahms“. Verblüfft folgte Werbeck den sich rasant auf dem Bildschirm entwickelnden Worten:
„Nänie“ (Op. 82) von Johannes Brahms ist ein Chorstück, das auf einem Gedicht von Friedrich Schiller basiert. Es wurde 1881 komponiert und ist für gemischten Chor und Orchester geschrieben. Der Titel „Nänie" leitet sich von dem lateinischen Wort „nenia“ ab, das ein Trauerlied oder eine Totenklage bedeutet. Das Werk ist Brahms' musikalische Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und den Trost der Schönheit im Angesicht des Todes.
Inhalt
Das Gedicht von Schiller, das Brahms vertonte, spricht von der Trauer über den Tod und die Schönheit, die auch im Tod weiterlebt. Es thematisiert die Trauer über den Verlust geliebter Menschen und die Vergänglichkeit des Lebens, aber auch die tröstende und unsterbliche Kraft der Schönheit, die durch Kunst und Natur weiterlebt.
Musikalische Besonderheiten
- Einleitung:
- Die Einleitung beginnt sanft und einladend, mit weichen Holzbläsern und Streichern, die eine melancholische Atmosphäre schaffen. Die Harmonie ist typisch für Brahms, reich und dicht, aber immer lyrisch.
- Themen und Motive:
- Brahms verwendet mehrere ineinander verwobene Themen und Motive, die die Textzeilen widerspiegeln. Die Themen sind oft traurig und reflektierend, was die Stimmung des Gedichts unterstützt.
- Chor und Orchester:
- Der gemischte Chor wird in homophonen und polyphonen Passagen verwendet. Brahms nutzt den Chor, um die emotionalen Höhen und Tiefen des Gedichts zu betonen. Das Orchester begleitet und unterstützt den Chor, fügt aber auch eigene Kommentare und Farben hinzu.
- Dynamik und Ausdruck:
- Brahms spielt mit einer breiten Palette von Dynamiken, von sehr leise (pianissimo) bis sehr laut (fortissimo), um die Emotionen des Textes zu verstärken. Er verwendet Crescendi und Decrescendi, um Spannungen aufzubauen und zu lösen.
- Harmonische Sprache:
- Die Harmonie in „Nänie“ ist komplex und reichhaltig, typisch für Brahms’ späten Stil. Er verwendet chromatische Harmonien und unerwartete Modulationen, die die melancholische Stimmung des Werkes unterstreichen.
- Textausdeutung:
- Brahms ist bekannt für seine Fähigkeit, den Text musikalisch zu deuten. In „Nänie“ vertont er die Worte so, dass die Musik die Bedeutung und Emotionen des Gedichts verstärkt. Wichtige Worte und Phrasen werden oft durch musikalische Mittel wie Akzente, rhythmische Veränderungen oder besondere Harmonien hervorgehoben.
- Form und Struktur:
- „Nänie“ folgt einer durchkomponierten Struktur, bei der die Musik ständig weiterentwickelt wird und keine Wiederholungen im traditionellen Sinne hat. Dies hilft, die erzählende und reflektierende Natur des Gedichts zu unterstützen.
Zusammenfassung
„Nänie“ von Johannes Brahms ist ein bewegendes Chorwerk, das die Themen Vergänglichkeit und Schönheit musikalisch eindrucksvoll darstellt. Die Komposition zeichnet sich durch ihre reiche Harmonik, emotionale Tiefe und die kunstvolle Textausdeutung aus. Brahms gelingt es, Schillers Gedicht musikalisch zu interpretieren und eine tiefe, berührende Atmosphäre zu schaffen, die den Zuhörer in eine kontemplative Stimmung versetzt.
Auf die erste Verblüffung angesichts der Schnelligkeit, der Gliederung und des Umfangs folgte das Nachdenken, in das auch die anderen Vorstandsmitglieder einbezogen wurden. Nicht alle waren vom Ergebnis der Anfrage rundum überzeugt. War das nicht zu allgemein gehalten, auswechselbar?
Das wollen wir doch mal sehen, sagte sich Michael Werbeck und ließ die KI auch für die anderen Chorwerke von Brahms, die der RathsChor im September aufführen will, die Erläuterungen schreiben. Und sie waren durchaus differenziert, wieder vordergründig beeindruckend.
Beim genaueren Hinsehen fehlen im KI-Text allerdings noch eine ganze Menge an Erläuterungen, z. B. Angaben zum Umfeld der Stücke: nicht nur Entstehungsjahr, sondern auch -anlass und Funktion. Für wen und warum schreibt Brahms solche Sachen? Wie kommt er gerade auf diese Texte? Und, vor allem, wie vertragen sich christliche Inhalte mit seiner eher skeptischen Einstellung gegenüber der christlichen Kirche?
Eine weitere Kritik bezog sich auf die Auswechselbarkeit dieses Textes. Die Zusammenfassung vom „Begräbnisgesang“ etwa könnte mit wenigen Veränderungen auch auf andere Trauermusiken verwendet werden – z. B. auf die „Musikalische Exequien“ von Heinrich Schütz.
Bedenkt man jedoch, dass dieser Text innerhalb von Sekunden generiert wurde, dass er umfangreich über Daten und Fakten informiert und dabei in einer vorzüglich lesbaren und fehlerfreien Form erscheint und sogar emotional anspricht, ist das ein beeindruckendes Ergebnis.
Michael Werbeck schreibt: „Auf der anderen Seite steht aber der Anspruch unseres Chores nach Authentizität sowohl in der Musik als auch in ihrer Rezeption. Eine fundierte, vielschichtige musikwissenschaftliche Betrachtung geht doch deutlich über eine – zudem ohne Quellenangabe – virtuell erzeugte Werkbeschreibung hinaus. Außerdem wollen wir uns nicht an dem weltweiten personellen Verdrängungswettbewerb beteiligen, der zunehmend auch den Musikbereich erfasst.“
Herr Werbeck jedenfalls konnte seinen Vorstand überzeugen, für das Programmheft die Erläuterungen zu den eindrucksvollen Brahms-Werken von einem versierten Musikwissenschaftler aus Kiel schreiben zu lassen. (Für Interessierte: Das Programmheft wird üblicherweise nach dem Konzert auch auf der Webseite des Chores zu finden sein.) Gleichwohl ist sein Interesse an dem Thema KI geweckt, er wird weiter mit diesen neuen Möglichkeiten experimentieren.
Chat GPT und ähnliche Portale lassen sich bereitwillig mit Fragestellungen kontaktieren. Wie das Beispiel zeigt, gibt es hier viel Potential für die Chorarbeit, zumindest für einen ersten Überblick oder eine schnelle Information. KI wird vermutlich künftig eine immer größere Rolle im Alltag der Chöre spielen. Es kommt darauf an, sie sinnvoll zu nutzen.
Der Gesetzgeber ist gefordert, eine Klärung der offenen urheberrechtlichen Fragen bei der Nutzung solcher Texte herbeizuführen. Bis dahin sind Texte dieser Art unter Angabe der Quellenbezeichnung durchaus für die hier skizzierten Anwendungen verwendbar.
Michael Werbeck regt an: „Eine Frage an den VDKC könnte allerdings lauten, ob und wie die hier zusammengeschlossenen Chöre nicht auch gute Werkbeschreibungen untereinander austauschen könnten, so wie das ja mit den Noten auch in der Entwicklung ist.“
Einen ersten Schritt dazu hat der VDKC mit seiner Dienstleistung zu Werkeinführungen, die von VDKC-Mitgliedschören kostenfrei genutzt werden können, bereits gemacht: Werkeinführungen. Dieses Angebot durch eigene Beiträge auszubauen, kann wiederrum etwas sein, was der VDKC-Chorgemeinschaft zu Gute kommt.
Ralf Schöne
28.08.2024