Unter das Motto „Jauchzet, frohlocket!“ hat der Berliner Konzertchor sein diesjähriges Adventsprogramm gestellt. Dieses verweist natürlich auf die Kantate Nr. 1 des Weihnachts-Oratoriums von Johann Sebastian Bach. Am Beginn jedoch erklingt unter dem gleichen Motto Die Geburt Jesu Christi des Schweriner Hofkapellmeisters Johann Wilhelm Hertel. Jauchzen und Frohlocken empfiehlt der Berliner Konzert Chor den Mitwirkenden und Zuhörern auch deshalb, weil Johann Wilhelm Hertel als quasi neu entdeckter Komponist gelten kann. Da sein Wirken in der Epoche des empfindsamen Stils sich sehr auf das "zurückgebliebene" Mecklenburg beschränkte, erkannte man erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts seine künstlerische Meisterschaft. Zu Recht gilt er inzwischen in Deutschland als ein wichtiger Wegbereiter der klassischen Musik.
Im folgenden wird die Einleitung aus dem Programmheft von Dr. Gerd Belkius wiedergegeben:
Am Beginn des heutigen Konzertes steht die Kantate Die Geburt Jesu Christi von Johann Wilhelm Hertel (1727-1789), dessen Schaffensmittelpunkt in Schwerin lag. Nach seinem Tode wurde er bald vergessen. Erst in jüngster Zeit mehren sich Bemühungen um die Wiedererschließung seines Werkes, mit dem Hertel einen gewichtigen Beitrag leistete zum musikalischen Stilwandel vom Barock zur Klassik.
Geboren wurde Hertel im thüringischen Eisenach in einer Musikerfamilie. Der Großvater war Kapellmeister, der Vater Konzertmeister und zugleich berühmter Gambist. Unterricht erhielt der Knabe zunächst beim Vater. Als er mit sechs Jahren in das Eisenacher Gymnasium illustre geschickt wurde, besaß er Kenntnisse in Latein lesen und schreiben, Griechisch, Geschichte, Geografie, Logik, Mathematik und den schönen Wissenschaften. Unterricht erhielt er nun in Musik beim Kantor Geisthirdt, am Klavier bei dem Bach-Schüler Heil. Händelsche und Bachische Fugen und Sonaten spielte er auswendig am Klavier. Auf einer Konzertreise mit dem Vater glänzte er 1739 als Klaviersolist.
Mit dem Tode des Herzogs 1741 erlosch das Herzogtum Sachsen-Eisenach und die Kapelle wurde aufgelöst. Der Vater findet 1742 eine neue Anstellung als Konzertmeister in der Hofkapelle von Mecklenburg-Strelitz. Den Sohn lässt er beim befreundeten Komponisten Johann Friedrich Fasch (1688-1758) im anhaltinischen Zerbst ausbilden. Dort unterrichtet ihn auch der Österreicher Karl Höckh (1707-1773), der ihm die neue italienische Musik nahe bringt und im Generalbassspiel sowie auf der Violine schult. 1745 erhält Hertel eine Anstellung für Violine und Klavier in der Strelitzischen Hofkapelle. Er treibt Studien an Partituren, komponiert und dirigiert, lernt Italienisch. 1748 veröffentlicht Hertel eine eigene Gründliche Anweisung, wie man den Gb. recht tractiren soll [Gb. = Generalbass], 1749 eine Abhandlung von der Musik. Mehrere, zum Teil längere Aufenthalte in Berlin bringen Kompositionsstudien bei Carl Heinrich Graun (1703/04-1759) und Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) sowie Violinunterricht bei Franz Benda (1709-1786). Daneben findet man ihn wieder in Zerbst. 1751 stirbt in Neustrelitz der Herzog, die Kapelle wird geschlossen. Der Vater bezieht ein Gnadengehalt, der Sohn wird in die Dienste der Herzoginwitwe übernommen.
Ein Wechsel ergibt sich für Hertel 1754 nach Mecklenburg-Schwerin. Herzog Christian Ludwig II. stellt ihn als Hof- und Capellkomponist ein: "… Thun kund und bekennen hiemit, daß wir aus Gnaden und Aus dazu bewegenden Ursachen, den Ehrsamen, Unseren lieben getreuen Johann Wilhelm Hertel zum Componisten bey Unserer Hof-Kapelle bestellet und angenommen haben. Thun auch solches hiemit und krafft dieses dergestalt und also daß Uns derselbe zuvörderst getreu, hold und gewärtig seye, Unser Bestes wißen und befordern, Schaden und Nachtheil aber abwenden, insbesondere aber nicht nur neue Stücke zur Hof- und Kammer-Music componiren und verfertigen, sondern auch bey derselben mit aufwarten und seyn I n s t r u m e n t spielen; Nicht weniger außer der Music Unserm Raht und Hof-Bau Directori le Geay, mit Schreiben, copiren, uebersetzen, Nachsicht der Rechnungen oder was derselben sonst von ihm verlanget wird, an die Hand gehen, und alles, was ihm committiret wird, mit allem Fleiß, Treue und bereitwilligkeit ausrichten, mithin in allem, wie es einem getreuen Bedienten eignet und gebühret, auch wohl anstehet sich betragen soll. Für diese Uns von ihm zu leistende Dienste wollen wir ihm jährlich 250 rthlr [Reichsthaler - GB] in den gewöhnlichen quartal ratis auch 25 rthlr. Hauß-Miethe, und 4 fahden Brenn Holz jährlich reichen laßen. Uhrkundl.Schwerin den 18.April 1754."
Hertel komponiert viel Instrumentalmusik (Sinfonien, Solokonzerte, Sonaten) sowie auch Vokalmusik für die Belange des musikliebenden Hofes. Christian Ludwig II. reorganisierte seit seinem Regierungsantritt die Hofkapelle, die er mit einer Fülle von Aufgaben betraut.
1756 stirbt der Herzog, und Herzog Friedrich, genannt „der Fromme“, tritt die Regierung an. Im selben Jahr bricht der Siebenjährige Krieg aus. Für den Hof beginnen „Wanderjahre“, er flieht und pendelt zwischen Hamburg, Altona und Lübeck. Die Kapellarbeit ruht, doch erhält Hertel weiterhin sein Gehalt. Daher bleibt ihm viel Zeit zum Komponieren. Er treibt Studien, die er als Herausgeber der Öffentlichkeit übergibt: Sammlung Musikalischer Schriften größtenteils aus den Werken der Italiäner und Franzosen übersetzt und mit Kommentaren versehen von Johann Wilhelm Hertel, Leipzig 1757/1758.
Zwischen 1759 und 1760 wirkt Hertel in Stralsund als Musikdirektor der Hauptkirche. Er organisiert Konzerte für die Bürgerschaft und für die Offiziere der schwedischen Armee sowie die Verbindungsoffiziere der Sachsen, Russen und Franzosen. Dann tritt er in Schwerin wieder in die Dienste des Herzogs. Die Kapelle wird aufgestockt (in den Achtziger Jahren etwa 35 Mitglieder!). Ab 1763 weilt der Hof in der neuen Residenz Ludwigslust. Hertel wird 1765 in Schwerin Privatsekretär bei Herzogin Ulrike Sophie und nimmt 1767 seinen Abschied von der Kapelle, deren Arbeit er jedoch weiterhin verbunden bleibt.
Herzog Friedrich ist ein glühender Verfechter des Pietismus und fördert auch mittels der Musik Frömmigkeit und Verbreitung des Glaubens im Lande. In Ludwigslust lässt er eine geradezu monumentale Kirche bauen (vollendet 1770), in der er wöchentliche geistliche Musiken veranstaltet. Zutritt hat dort jede rechtlich gekleidete Manns- und Frauenperson, ganz ohne Unterschied des Standes. Choräle, Psalmvertonungen und Kantaten erklingen, zumeist von den Hauskomponisten Carl August Friedrich Westenholtz (1736-1798) und Johann Wilhelm Hertel. Letzterer komponiert in den Jahren 1777-1783 dafür neun größere Kantaten, am Anfang dieser Reihe steht Die Geburt Jesu Christi. Zunehmend genießt diese Musikpflege weit über Schwerin hinaus hohes Ansehen. Beispielsweise spricht der Komponist Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) in der Vorrede zu seinen Religiösen Oden (1784) achtungsvoll von Ludwigslust, wo insonderheit die religiöse Musik ihren berühmtesten Wohnsitz hat.
Die geistlichen und künstlerischen Vorlieben des Herzogs bleiben nicht ohne Einfluss auf die kompositorische Haltung Hertels. In seiner Autobiografie von 1784 schreibt er dazu: Da Sr: Durchlaucht stets ein besonderes Wohlgefallen an den Stücken des Pergolesi und Jomelli fanden, so veranlaßte dieß, daß er (Hertel - GB) jetzt seinen bißherigen, durch die Muster eines Hasse und Grauns gebildeten Geschmack in der Composition änderte, mit solchem in die Manier dieser beyden Meister entrirte, noch mehr wie bißher die besten Italiäner studirte und so sich den jenigen Styl eigen machte, den er hernach nicht wieder verlies, noch zu ändern Ursach fand.
Hertel kommt also an die Musik von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) und Nicolò Jomelli (1714-1774), die in Italien als wichtige Vertreter des Empfindsamen Stils, dem Bindeglied zwischen Barock und Klassik, gelten. Nochmals ergibt sich für ihn ein Anstoß für neue musikalische Stilistik. Was seine Lehrer und Kollegen aus den Berlin-Potsdamer, Zerbster, Thüringer oder Schweriner Kreisen gemeinsam mit ihm anstrebten, findet zusätzliche Bestätigung.
Hertels letzte Lebensjahre sind überschattet von Todesfällen in der Familie. Er kränkelt zunehmend und stirbt 1789 in Schwerin. Ein Jahr nach Hertels Tode schreibt Ernst Ludwig Gerber in dem Historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler: Er gehörte seit der Mitte dieses Jh. zu unseren geschmackvollesten Komp., sowohl was die Instr.- als Vokalmusik angeht. Danach wurde es schnell still um ihn.
Für das umfangreiche Programm der Kirchenmusik in Ludwigslust fand Herzog Friedrich einen Mitstreiter in dem mecklenburgischen Pfarrer Johann Heinrich Tode (1733-1797). Dieser hatte sich mit Dichtungen zu religiösen Fragen empfohlen. Friedrich und Tode einte dasselbe, im Pietismus fußende Anliegen, mit Hilfe der Dichtung und Musik zur Hebung der Volksfrömmigkeit beizutragen. Der Herzog verpflichtete Tode, zahlreiche Kantaten- und Oratorientexte zu schaffen. Daneben entstanden auch Liedtexte für die häusliche Andacht.
Hertel nahm für Die Geburt Jesu Christi das Libretto von Tode. Das tat er auch bei seinen anderen Ludwigsluster Kantaten. Er muss also diese Dichtungen geschätzt haben. Tode liefert eine klare Gliederung. Für den Chor stehen der erste und der letzte Satz zur Verfügung, auch wird ein Arioso in einen Chor überführt. Daneben singt der Chor zahlreiche Weihnachtschoräle. Rezitative und Arien dominieren. Es gibt Texte aus den Evangelien, um das Wichtigste des Weihnachtsgeschehens zu berichten. Große Teile hat Tode selbst gedichtet, in denen er die Ereignisse um die Geburt Jesu kommentiert.
Gerade diese Kommentare muten heutige Hörer möglicherweise mitunter etwas eigenartig an, denn Tode argumentiert als Pietist, leicht moralisierend, sozusagen mit pädagogischem Zeigefinger. Oft verweist er auf das Passionsgeschehen, darauf, dass die Menschen sich Gottes Liebe nicht würdig erweisen. Sein Eingangschor stimmt daher einen alttestamentarischen Klagepsalm an. Und folgerichtig beginnt Hertels Weihnachtsoratorium mit Trauertönen in d-Moll. Doch ist er lebensbejahend genug, die Trauer abzubrechen und diesen Satz plötzlich in eine fröhliche Chorfuge in D-Dur zu überführen.
Hertel hat es gelernt, Fugen und Da-capo-Arien zu komponieren, er kennt seinen Kontrapunkt und schätzt die begleitende Generalbassgruppe, barocke Wortausdeutungen sind ihm selbstverständlich, auch bedient er alte Tonartencharakteristika. Doch in nahezu allen Belangen findet er gleichzeitig auch zu neuartigen Gestaltungsweisen. Melodik und Harmonik erhalten immer wieder sinfonisch-klassischen Zuschnitt. Er sorgt für spezifische, farbige Instrumentbesetzungen, lässt die Musiker mit den Vokalsolisten konzertieren, er experimentiert mit Rezitativformen, in klassischer Weise erscheinen in der Begleitung Tonrepetitionen, Trommel- und Albertibässe. Und wenn sich am Schluss die Vokalsolisten zum innig gesungenen Quartett vereinen, wenn dann noch mit dramatischem Schwung der Chor hinzutritt und alle gemeinsam mit dem Orchester in jubelnde Klänge verfallen, dann scheint der Spagat zwischen Barock und Klassik vollzogen. Hertel hat sich eine neue musikalische Welt erschlossen!
Jammerschade, dass Hertel mit Schwerin offensichtlich eine falsche Region für sein Schaffen gefunden hat. Ob es in diesem rückständigen Mecklenburg künstlerische Leistungen seiner Größe gab, hat 150 Jahre lang niemanden interessiert. Es wird Zeit, das zu ändern.
Die Sätze des Werkes
1. Coro
2. Recitativo (Alto)
3. Aria (Alto)
4. Recitativo (Tenore)
5. Accompagnamento (Tenore)
6. Choral
7. Accompagnamento (Basso)
8. Aria (Basso)
9. Choral
10. Recitativo (Soprano)
11. Duetto (Soprano e Alto)
12. Recitativo (Tenore)
13. Aria (Tenore)
14. Choral
15. Recitativo (Soprano)
16. Aria (Soprano)
17. Arioso (Soprano) e Coro
18. Choral
19. Accompagnamento (Tenore)
20. Choral
21. Recitativo (Soprano I)
22. Aria (Soprano)
23. Accompagnamento e Arioso (SATB)
24. Coro